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Bericht eines DDR-Flüchtlings, 10. April 1961

Bericht eines DDR-Flüchtlings, 10. April 1961

Ich fuhr am 6. Mai 1960 zum Todestag meiner Schwiegermutter nach Berlin-Schöneberg. Als ich zurückkam, bekam ich ein Parteiverfahren.

Das Parteiverfahren wurde mündlich durchgeführt. Ich erhielt eine Rüge und eine Bewährungsfrist von einem Jahr. Ich mußte nun laufend fast jeden Sonnabend und Sonntag hinaus aufs Land und Landarbeit zur Bewährung verrichten.

In einer Belegschaftsversammlung, am 26.10.1960, mußte ich vor allen Kollegen des Betriebes Stellung nehmen zu meinem Verhalten (Fahrt nach West-Berlin zum Todestag meiner Schwiegermutter).

Jeder Betriebsangehörige wurde aufgefordert, an mich Fragen zu stellen. Viele Fragen wurden gestellt und ich mußte sie alle beantworten. Diese Tortur dauerte zweieinhalb Stunden. Die Belegschaftsversammlung zur Rechenschaftslegung sollte schon viel früher durchgeführt werden, aber die Betriebsparteileitung schob den Termin so lange hinaus, damit keine Unruhe in der Belegschaft entstehen sollte.

Die BPO konnte die Versammlung nicht gleich nach meiner Rückkehr aus West-Berlin durchführen lassen, weil BGL-Mitglieder und viele Gewerkschaftskollegen es nicht zuließen, daß man mich sofort zur Rechenschaftslegung zog.

Da meine Frau und die Kinder katholisch sind, trat die Betriebsparteileitung im November 1960 an mich heran mit der Aufforderung, meine Frau und die Kinder zu veranlassen, aus der katholischen Kirche auszutreten. Ich teilte der SED mit, daß meine Frau ein Austreten aus der Kirche ablehnt. Daraufhin wurde mir gesagt, daß ich mich von meiner Frau scheiden lassen solle.

Im Februar 1961 wurde ich erneut aufgefordert, mich von meiner Familie zu trennen oder meinen Arbeitsplatz (BGL-Vorsitzender) zu verlassen.

Seit Oktober 1960 wurde nicht nur ich laufend von der Betriebsparteileitung schikaniert, sondern auch mein Sohn. Er wurde laufend in der Schule von anderen Kindern beschimpft, weil er ständig zum katholischen Unterricht ging. Das ging soweit, daß man meinem Sohn immer nachrief: „Sehet her, da geht der junge Pfaffe". Mein Junge wurde auch durch den Klassenlehrer schikaniert. Wenn er einmal frei haben wollte, wurde von dem Klassenlehrer gesagt: „Wie oft feiert ihr Katholiken denn noch? Du bekommst nicht frei."

Nachdem ich diesen Terror der SED monatelang über mich habe ergehen lassen müssen und meine Frau vor einem Nervenzusammenbruch stand, haben wir uns schweren Herzens entschlossen, am 24. März 1961 die Ostzone zu verlassen und nach Westberlin zu flüchten. Ich bin froh, daß ich mit meiner Frau und meinen beiden Kindern West-Berlin erreicht habe.

Quelle: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hg.), Der Bau der Mauer durch Berlin, faks. Nachauflage, Bonn 1986, S. 63.
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