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Aide-mémoire der Regierung der UdSSR an die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, 17. Februar 1961

Aide-mémoire der Regierung der UdSSR an die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, 17. Februar 1961

Abschrift

  1. Die Sowjetregierung ist der Ansicht, daß beide Seiten keine Anstrengungen scheuen dürfen, um in den bei Gesprächen angeschnittenen, wichtigen, die UdSSR und die Bundesrepublik Deutschland interessierenden politischen Fragen Einvernehmen zu erzielen. Sie hat mit Genugtuung die Worte K. Adenauers von seinem Wunsch aufgenommen, die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern zu bereinigen. In Moskau wird auch die Tatsache begrüßt, daß das Handelsabkommen letzten Endes unterzeichnet worden ist. Es wäre jedoch falsch, aus den Erfahrungen der Handelsverhandlungen nicht die Schlußfolgerung darüber zu ziehen, daß man keine künstlichen Hindernisse bei der Einleitung der Zusammenarbeit, an der sowohl die UdSSR als auch die Bundesrepublik interessiert sein muß, auftürmen darf, wenn man nach einer Verbesserung der Beziehungen zwischen unseren Ländern strebt. Die Sowjetregierung strebte immer nach einer allseitigen Verbesserung der Beziehungen zur Bundesrepublik. Mehr noch, sie möchte, daß sich diese Beziehungen nicht nur erfolgreich entwickeln, sondern auch in dauerhafte freundschaftliche Zusammenarbeit umschlagen, weil der Stand der sowjetisch-deutschen Beziehungen für die Geschicke des Friedens in Europa stets von riesiger Bedeutung war.

  2. Die Sowjetregierung ist der Ansicht, daß die Frage eines Friedensvertrages mit Deutschland zur Zeit das Wichtigste in den sowjetisch-deutschen Beziehungen bildet, und mißt ihrer unverzüglichen Lösung die größte Bedeutung bei. Der Regierung der Bundesrepublik muß der Standpunkt der UdSSR gut bekannt sein. Er wurde u. a. in der Botschaft N. S. Chruschtschows an den Bundeskanzler vom Januar 1960 ausführlich dargelegt. Ohne viel wiederholen zu wollen, muß man jedoch darauf hinweisen, daß das Fehlen eines Friedensvertrags sich nicht nur auf die Lage in Deutschland, sondern auch auf die gesamte Situation in Europa auf das negativste auswirkt.

    Es ist doch eine Tatsache, daß in Westdeutschland mit jedem Jahr immer lauter und nachdrücklicher Stimmen zu vernehmen sind, die eine Revision der bestehenden Grenzen in Europa fordern, obwohl allen klar ist, daß dies die Gefahr eines neuen Krieges in sich birgt. Diese Stimmen werden um so vernehmlicher, je mehr die Bundesrepublik aufrüstet. Die Bundesregierung muß wissen, welche Reaktion derartige Forderungen bei den Völkern der Sowjetunion, Polens, der Tschechoslowakei, ja auch in anderen europäischen Staaten auslösen.

    Eine völlig anomale Lage ist in Westberlin entstanden, das immer noch für subversive Aktionen gegen die Deutsche Demokratische Republik, die UdSSR und andere sozialistische Staaten mißbraucht wird.

    So darf es nicht weitergehen: Entweder man geht einer immer gefährlicheren Zuspitzung der Beziehungen zwischen den Staaten, militärischen Konflikten entgegen, oder man schließt einen Friedensvertrag.

  3. Im Westen beginnt man jetzt offenkundig schon zu erkennen, daß es notwendig ist, einen Friedensvertrag abzuschließen, den Kriegszustand zu beseitigen und die Beziehungen zwischen den Staaten zu normalisieren. Nichtsdestoweniger suchten einige Staatsmänner in Gesprächen mitunter den Gedanken zu vertreten, es sei jetzt nicht an der Zeit, da doch die Vorbereitungen zu den Präsidentschaftswahlen in den USA im Gange seien. Man müsse abwarten, bis sie vorbei sind. Nach den Wahlen aber sagte man, der Präsident und die neue USA-Regierung seien eben erst an die Erfüllung ihrer Pflichten gegangen und hätten sich vorerst noch nicht eingearbeitet. Deshalb müsse man abwarten, bis eine gewisse Zeit verstreicht. Andere wieder führen ins Treffen, es sei angesichts der bevorstehenden Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland jetzt nicht an der Zeit, diese Frage zu lösen. Nach den Wahlen in der Bundesrepublik wird man offenbar auch sagen: Die Wahlen seien eben erst vorüber, in der Hitze des Wahlkampfes hätte man viel Unverantwortliches geredet und es sei Zeit nötig, damit die politischen Leidenschaften sich legen, die Hetzreden in Vergessenheit geraten.

    Gibt man dieser Tendenz nach, so kann das unendlich lange dauern.

    Einige Politiker der Bundesrepublik lassen durchblicken, die Christlich-Demokratische Union würde vielleicht der Unterzeichnung eines Friedensvertrags und den heutigen Grenzen zustimmen, aber es gebe in der Bundesrepublik Millionen umgesiedelter Personen, und wenn die Regierung die Grenzen anerkenne, würden diese Personen die zur Zeit am Ruder stehende Partei nicht unterstützen. Diese Politiker wissen, daß das den umgesiedelten Personen gegebene Versprechen, eine Grenzrevision herbeizuführen, Phantasterei, daß es unerfüllbar ist. Doch sie beuten die Hoffnungen jener trotzdem aus, sie beuten jene aber nicht nur aus, sondern sie fachen auch die Revanchestimmungen, die Hoffnungen auf eine Änderung der Grenzen an.

    Jeder vernünftig denkende Staatsmann begreift, daß die im Resultat des zweiten Weltkrieges festgelegten Grenzen endgültig sind, und wenn irgendeine Regierung ihre Anderung zu erlangen sucht, so schickt sie sich wahrscheinlich auch an, dafür Krieg zu führen. All das spricht davon, daß wir offenkundig einen Friedensvertrag unterzeichnen müssen. Jetzt sind wohl schon alle Fristen abgelaufen, um die Notwendigkeit der Unterzeichnung eines Friedensvertrags zu erkennen und auf diese Weise die Frage des Besatzungsregimes in Westberlin zu lösen und letzteres in eine Freie Stadt umzuwandeln.

    Mitunter wird in der Bundesrepublik Deutschland erklärt, die Voraussetzungen für die Lösung dieses Problems seien noch nicht herangereift, da ein Friedensvertrag lediglich mit einer gesamtdeutschen Regierung, d. h. nach der Wiedervereinigung Deutschlands, abgeschlossen werden könnte. Diesen Standpunkt könnte man noch verstehen, wenn Deutschland jetzt tatsächlich unmittelbar vor der Wiedervereinigung stünde. Aber die Sache verhält sich doch gerade umgekehrt. Die Bundesregierung widersetzt sich hartnäckig jedweder Zusammenarbeit und Annäherung mit der Deutschen Demokratischen Republik, steuert ihr gegenüber einen offen feindseligen Kurs und versperrt damit hermetisch den einzig möglichen Weg zur Wiederherstellung der Einheit des Landes. Wie kann man unter diesen Umständen den Abschluß eines Friedensvertrags mit der Bildung einer gesamtdeutschen Regierung in Zusammenhang bringen? Diesem Standpunkt zuzustimmen, würde bedeuten, die friedliche Regelung mit Deutschland überhaupt auf lange Jahre zu begraben.

    Ebenso unzulässig ist es, die Lösung der Frage des Friedensvertrags von einem Abrüstungsabkommen abhängig zu machen, wie das die Bundesregierung jetzt tut. Friedensvertrag und Abrüstung sind selbständige Fragen. Hinzu kommt noch, daß sie an sich schon kompliziert genug sind und man ihre Lösung nicht noch mehr komplizieren darf, indem man bald den Friedensvertrag einer Abrüstung, bald die Abrüstung einem Friedensvertrag künstlich unterordnet. Die Versuche, diese wichtigen internationalen Fragen miteinander zu verknoten, können nur eines bedeuten: das Bestreben, die Lösung der einen wie der anderen Frage zu verhindern.

    Spricht man aber von der Abrüstung als solcher, so läuft der Standpunkt der Bundesregierung in dieser Frage im Grunde genommen darauf hinaus, abzuwarten, bis ein allumfassendes Abkommen, das die Interessen aller Völker berührt, darunter auch des deutschen Volkes, von anderen Mächten ausgearbeitet wird. Die Bundesregierung selbst zieht es indes vor, sich um die fortschreitende Erweiterung der eigenen Rüstungen und um die aktive Beteiligung an den Rüstungen der Westmächte, ihrer Partner im Rahmen der militärischen Gruppierungen, zu bemühen. Die Jahr für Jahr ständig steigenden Bewilligungen für militärische Zwecke, die Unterstützung der Pläne zur Verwandlung der NATO in eine vierte Atommacht, die Verhandlungen mit England über die Anlegung von Militärstützpunkten der Bundeswehr in diesem Lande, der Abschluß eines Abkommens mit verschiedenen Mitgliedsstaaten der NATO über die gemeinsame Raketenwaffenproduktion und der weitere Ausbau der militärischen Zusammenarbeit - diese und viele andere Tatsachen zeugen davon, daß die Bundesregierung anderen anheimstellt, die großen Schwierigkeiten auf dem Wege zu einer allgemeinen und vollständigen Abrüstung zu überwinden, selbst aber in diametral entgegengesetzter Richtung wirkt. Natürlich können angesichts dessen auch die farbigsten Lippenbekenntnisse zur Idee der Abrüstung niemanden von der Aufrichtigkeit jener überzeugen, die so oft mit ihnen operieren. Die gegenwärtige Politik der Bundesregierung muß den Gedanken aufkommen lassen, daß sie hofft, ihre Ziele mit Gewalt erreichen zu können, daß man in der Bundesrepublik zu diesem Zweck umfassende militärische Vorbereitungen trifft und die Bundesregierung beharrlich Atomwaffen zu erhalten bestrebt ist, dabei den Bemühungen der Völker zuwiderhandelnd, die für allgemeine und vollständige Abrüstung kämpfen. Die Bundesregierung erklärt, daß sie ausschließlich friedliche Absichten hege. Wir sind bereit, das zu glauben: Unterschreiben Sie einen Friedensvertrag, und damit würde das Mißtrauen gegenüber der Politik der Bundesrepublik Deutschland in vielen Ländern der Welt verschwinden. Wenn die Bundesregierung tatsächlich bereit ist, sich von den Prinzipien der friedlichen Koexistenz leiten zu lassen, so dürfte sie doch nichts daran hindern können, ihre Unterschrift unter dieses Dokument zu setzen.

    Die Sowjetunion verlangt von der Bundesrepublik keinerlei Opfer. Wir schlagen einzig und allein vor, die nach dem Kriege entstandene Lage in Europa zu fixieren, die Unantastbarkeit der nach dem Krieg festgelegten Grenzen rechtlich zu verankern und die Lage in Westberlin auf Grund einer vernünftigen Berücksichtigung der Interessen aller Seiten zu normalisieren.

    Was kann die Bundesrepublik von dem, was sie heute besitzt, im Ergebnis einer solchen Regelung verlieren? Absolut nichts. Die Teilnahme der Bundesrepublik am Abschluß eines Friedensvertrags aber würde nicht nur eine wichtige Rolle spielen, um die Voraussetzungen für die Lösung der gesamtnationalen Aufgaben des deutschen Volkes zu schaffen. Dieser Schritt würde die Bundesrepublik aus der Sackgasse herausführen, in die heute ihre Beziehungen zu einer Reihe europäischer Staaten geraten sind.

  4. Wie bekannt, sehen die sowjetischen Vorschläge die Lösung der Frage Westberlin als Freie Stadt auf der Grundlage eines Friedensvertrages mit den beiden deutschen Staaten vor. Dieser Umstand eröffnet der Bundesrepublik weitgehende Möglichkeiten für die Wahrnehmung ihrer Interessen in Westberlin, da ihre Vertreter dann als Partner bei den Friedensverhandlungen auftreten würden. Die Sowjetregierung jedenfalls wäre bereit, für die Wünsche der Bundesregierung ein Höchstmaß an Verständnis aufzubringen und sie bei den Verhandlungen mit allen anderen interessierten Seiten zu berücksichtigen. Eine ganz andere Lage entsteht, wenn die Bundesregierung weiter an ihrem negativen Standpunkt zu dem Friedensvertrag mit Deutschland festhalten wird. Dadurch entzieht sie sich der Möglichkeit, ihre Interessen unmittelbar wahrzunehmen.

    Der sowjetische Standpunkt schließt nach wie vor auch die Möglichkeit einer zeitweiligen Regelung der Westberlinfrage vor dem Abschluß eines Friedensvertrags mit Deutschland nicht aus, wobei allerdings ein von vornherein streng vereinbarter Termin für den Abschluß eines solchen Vertrags ins Auge zu fassen ist. Man muß jedoch berücksichtigen, daß an der Ausarbeitung eines zeitweiligen Abkommens über Westberlin nur die unmittelbar interessierten Länder teilnehmen können, zu denen die Bundesrepublik Deutschland bekanntlich nicht gehört.

    Wenn aber auch nach Ablauf der von vornherein festgelegten Frist kein Friedensvertrag mit beiden Staaten zustandekommt, so wird die Sowjetunion gemeinsam mit anderen Staaten, die dazu bereit sind, einen Friedensvertrag mit der DDR unterzeichnen. Zugleich wird das auch die Beseitigung des Besatzungsregimes in Westberlin mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen bedeuten. U. a. werden in diesem Falle die Fragen der Benutzung der Kommunikationen zu Lande, zu Wasser und in der Luft über das Territorium der DDR lediglich auf Grund entsprechender Abkommen mit der DDR entschieden werden müssen.

  5. Man versucht mitunter, die Sowjetunion mit einem Krieg als Antwort auf den Abschluß eines Friedensvertrags mit der DDR zu schrecken. Aber nur Wahnsinnige könnten sich, wie der sowjetische Regierungschef N. S. Chruschtschow wiederholt erklärt hat, dazu entschließen, einen derartigen Schritt zu tun, nur weil die Sowjetunion und andere Staaten einen Friedensvertrag unterzeichnen, der die Atmosphäre im Herzen Europas zu gesunden berufen ist. Sollte es dennoch jemand riskieren, gegen die sozialistischen Länder eine Aggression zu entfesseln, so müßte er bei dem gegenwärtigen Kräfteverhältnis die schweren Folgen in Rechnung stellen, die ein derartiges Abenteuer unweigerlich nach sich ziehen würde. Die Sowjetunion und ihre Freunde besitzen alles, was nötig ist, um die gerechte Sache in gebührender Weise zu verfechten.

  6. Die Notwendigkeit, einen Friedensvertrag abzuschließen, erkennen die verantwortlichen Politiker jener Staaten, die das angeht, immer mehr. Jetzt ist es um so unzulässiger, die Lösung dieser Frage zurückzustellen, denn diese Frage ist ohnehin schon zu lange verschleppt worden.

    Der Krieg hat vor fast 16 Jahren geendet, und jeder vernünftige Mensch versteht offenbar, daß die im Ergebnis des Krieges eingetretenen Wandlungen natürlich nicht durch Verhandlungen abgeändert werden können. Wenn die westdeutsche Seite glaubt, der Krieg habe die Deutschen in Gebietsfragen benachteiligt, so vertreten andere Länder da einen anderen Standpunkt. Die Staaten, die am Krieg gegen Hitlerdeutschland teilgenommen haben, sind der Meinung, daß in diesem Fall eine historische Ungerechtigkeit beloben worden ist, die durch Eroberungskriege Deutschlands in der Vergangenheit entstanden war. Darüber würden wir uns aber nicht streiten, denn die Hauptsache besteht darin, daß die Gebietsveränderungen, die Deutschland betreffen, durch den Krieg hervorgerufen worden sind, den das faschistische Deutschland begonnen hat. Wenn Deutschland jetzt andere Grenzen hat als vor dem Kriege, so ist es daran selbst schuld. Außerdem darf man nicht vergessen, daß die Länder, die von Deutschland überfallen wurden und gegen die es Krieg geführt hat, Millionen und aber Millionen Menschen verloren haben. Was die Sowjetunion betrifft, so hat sie viele Millionen Menschen auf den Schlachtfeldern und infolge der Greueltaten der faschistischen Okkupanten in den während des Krieges von den Deutschen besetzten Gebieten verloren. Wir können das aber auch nicht vergessen, wenn wir unseren Wunsch äußern, den Kriegszustand zu beseitigen und einen Friedensvertrag zu unterzeichnen.

    Die Bundesregierung, die eine der Rechtsnachfolgerinnen Deutschlands ist, das die Schuld am zweiten Weltkrieg trägt, ist nun nicht gewillt, einen Friedensvertrag abzuschließen, und verschleppt die Lösung dieser Frage. Das muß auf die Menschen in anderen Ländern, die Opfer der deutschen Aggression waren, alarmierend wirken.

  7. Gewisse Leute in der Bundesrepublik Deutschland behaupten, wir seien bestrebt, den Westdeutschen ein Diktat aufzuzwingen. Nein, wir strecken dem ganzen deutschen Volk freundschaftlich die Hand entgegen. Der sowjetische Entwurf eines Friedensvertrages mit Deutschland ist kein Ultimatum. Wenn die Bundesregierung mit diesen oder jenen Punkten unseres Entwurfes nicht einverstanden ist, so kann sie ihre entsprechenden Vorschläge machen oder einen eigenen Entwurf für einen Friedensvertrag unterbreiten. Die Sowjetregierung ist bereit, beliebige konstruktive Vorschläge der Bundesregierung zu erörtern, welche die bestehende Lage berücksichtigen und den Abschluß eines Friedensvertrages begünstigen. Wir wollen nicht Friedensverhandlungen hinter dem Rücken des deutschen Volkes führen und nicht auf Kosten seiner legitimen Rechte, sondern unter unmittelbarer Teilnahme der Deutschen selbst und mit der gebührenden Achtung und Berücksichtigung ihrer nationalen Interessen. Bei der Ausarbeitung ihrer Vorschläge zur friedlichen Regelung mit Deutschland hat die Sowjetregierung engen Kontakt mit der Deutschen Demokratischen Republik aufrechterhalten. Wir sind bereit, jederzeit in entsprechende Verhandlungen mit der Regierung der Bundesrepublik zu treten.

  8. Alles zeugt davon, daß in der Welt Wandlungen zum Besseren heranreifen. Wenn auch nicht so schnell, wie man es wünschen würde, so führt die Entwicklung doch zur Minderung der internationalen Spannungen, und es bieten sich Voraussetzungen für eine Lösung der strittigen Fragen mit friedlichen Mitteln, durch Verhandlungen. Die Wahlniederlage der Republikanischen Partei in den USA ist überall mit Recht als Verurteilung der von der Regierung Eisenhower in den letzten Jahren betriebenen gefährlichen und fruchtlosen Politik durch das amerikanische Volk aufgenommen worden. Heute ist es sehr wichtig, ein Höchstmaß an Elastizität und gutem Willen zu bekunden und die in der Welt sich herausbildende Lage realistisch zu beurteilen. Es ist in Betracht zu ziehen, daß viele Politiker und Staatsmänner sich allmählich von den gefährlichen Illusionen befreien und ein nüchterneres Herangehen an die Lösung der spruchreifen Fragen zu finden suchen.

    Heute, da man sich um eine mögliche Verbesserung der Beziehungen bemüht, sind die Reden einiger führender Männer der Bundesrepublik Deutschland über die UdSSR als "voraussichtlichen Kriegsgegner", die Forderung, der Bundeswehr Atomwaffen zur Verfügung zu stellen, und die Appelle zur Verstärkung subversiver Maßnahmen gegen die DDR besonders fehl am Platze. Derartige Äußerungen sind kaum geeignet, der Herstellung einer Atmosphäre des Vertrauens und des gegenseitigen Verständnisses zwischen den Staaten zu dienen. Sie zielen eher darauf ab, die Spannungen in den Beziehungen aufrechtzuerhalten und bei der Bevölkerung der Bundesrepublik feindselige Gefühle gegenüber der Sowjetunion zu erwecken, wobei die schmutzigsten Losungen des Antikommunismus benutzt werden, die das Hauptprogramm der CDU im Wahlkampf bilden. Wenn dem tatsächlich so ist, so müssen Sie, Herr Bundeskanzler, sich über die Folgen derartiger Schritte im klaren sein.

  9. Die Entschlossenheit der Sowjetunion wie der mit ihr befreundeten Staaten, die friedliche Regelung mit Deutschland zum Abschluß zu bringen, ist unerschütterlich. Es hängt nur von der Bundesregierung selbst ab, ob dieses Problem unter Beteiligung der Bundesrepublik geregelt wird.

    Wir werden alles tun, um in dieser Frage mit unseren ehemaligen Verbündeten im Krieg gegen Hitlerdeutschland zu einem Übereinkommen zu gelangen. Dabei darf man nicht vergessen, daß die Großmächte umfassendere Interessen besitzen, die sie zur Lösung der spruchreifen Fragen treiben. Gerade diese umfassenderen Interessen, und nicht die Deutschlandfrage, bestimmen letzten Endes ihre Haltung bei Verhandlungen. Und wenn sie dennoch nicht an der friedlichen Regelung teilnehmen wollen, dann werden wir darangehen, einen deutschen Friedensvertrag mit den Ländern zu schließen, die ihn unterzeichnen wollen.

    Die sowjetische Seite möchte, daß Sie, Herr Bundeskanzler, alles das abwägen, richtig beurteilen und den Mut aufbringen, ihrem Volk die Wahrheit zu sagen, daß die Überreste des Krieges beseitigt werden müssen und ein Friedensvertrag geschlossen werden muß. Wenn die Bundesregierung jedoch nach wie vor einer friedlichen Regelung mit Deutschland entgegenwirken wird, so wird sie sich der Realität gegenübergestellt sehen, und diese Realität wird darin bestehen, daß die Sowjetunion und andere interessierte Staaten einen Friedensvertrag unterschreiben. Wir werden einen Vertrag mit der Deutschen Demokratischen Republik unterzeichnen. Auf diese Weise wird die Frage über Westberlin als über eine Freie Stadt einer Lösung zugeführt, werden die deutschen Grenzen fixiert und alle im Friedensvertrag zu lösenden Fragen rechtlich geregelt werden. Man möchte glauben, daß eine nüchterne Einschätzung der gegenwärtigen Lage die Bundesregierung vor überstürzten Schritten zurückhalten und es ihr ermöglichen wird, eine richtige Entscheidung zu treffen.

    In Moskau bekundet man die Hoffnung, daß der Bundeskanzler seinen ganzen persönlichen Einfluß und seine große Erfahrung als Staatsmann geltend machen wird, damit die Bundesrepublik einen würdigen Beitrag zur friedlichen Regelung mit Deutschland und auf diese Weise auch zur Festigung des Friedens und der Sicherheit in Europa leisten kann. Eine solche Haltung der Bundesregierung würde zugleich auch die dauerhaftesten Voraussetzungen für eine grundlegende Wende in den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion zu Freundschaft und konstruktiver Zusammenarbeit schaffen. Die Sowjetregierung ist ihrerseits bereit, alles, was in ihren Kräften steht, zu tun, um ein gegenseitiges Verständnis in diesen Fragen herbeizuführen und sie gemeinsam mit der Bundesregierung ausführlich zu erörtern.


Quelle: Dokumente zur Deutschlandpolitik, IV. Reihe, Band 6, Erster Halbband, 1. Januar – 30. Mai 1961, hg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Frankfurt/Main 1975, S. 345-350.
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