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Protokoll über die Lagebesprechung des zentralen Stabes der DDR für den Mauerbau am 20. September 1961

Abschrift

Protokoll
über die Lagebesprechung des zentrales Stabes am 20.09.1961, von 08.30 Uhr bis 09.30 Uhr

Leitung:
Gen. Honecker

Teilnehmer:
Gen. Honecker, Gen. P. Verner, Gen. H. Hoffmann, Gen. E. Mielke, Gen. Kramer, Gen. Borning, Gen. Seifert, Gen. Eickemeier, Gen. Menzel, Gen. Weiß, Gen. Ende, Gen. Wahner, Gen. Schneider, Gen. Exner

Protokoll geführt:
Gen. Exner

Gen. Honecker gab einleitend bekannt, daß die Sitzung aufgrund eines Beschlusses des Politbüros des ZK der SED stattfindet. Das Politbüro hat die z. Zt. noch bestehenden unzulänglichen Pioniermaßnahmen zur Sicherung der Staatsgrenze in Berlin kritisiert. Der Erfolg des am 13.08.1961 geführten Schlages gegen die Militaristen und Revanchisten, darf nicht durch Nachlässigkeiten im Grenzsicherungssystem beeinträchtigt werden. Alle Durchbruchversuche müssen unmöglich gemacht werden. Gen. Honecker beauftragte nach einleitenden Ausführungen Gen. Generalmajor Seifert, die Lage an der Staatsgrenze in Berlin einzuschätzen.

Gen. Generalmajor Seifert berichtet wie folgt über die Lage an der Staatsgrenze in Berlin:

Der Stab des Ministeriums des Innern konzentrierte in den letzten Tagen seine Arbeit auf die Stabilisierung der Grenzsicherung in Berlin. Die Sicherungskräfte wurden umgruppiert und zwei Grenz-Brigaden gebildet. Es wurden alle Kräfte aufgeboten, um den politisch-moralischen Zustand zu verbessern. 402 Genossen der mittleren Polizeischule Aschersleben wurden in der Grenz-Brigade Berlin zur Stärkung der Kader aufgenommen. Die 1. Grenz-Brigade Berlin ist strukturmäßig aufgefüllt.

Vom 13.08.1961 bis zum 18.09.1961 erfolgten
216 Grenzdurchbrüche mit insgesamt 417 Personen

Davon sind
  • in der Zeit vom 13.08. bis 31.08.1961 128 Grenzdurchbrüche und
  • in der Zeit vom 01.09. bis 18.09.1961 88 Grenzdurchbrüche
festgestellt worden.

85 VP-Angehörige wurden fahnenflüchtig.
Zur Zeit gibt es täglich noch 5-6 Grenzdurchbrüche mit ca. 10-11 Personen. Es sind gewaltsame Grenzdurchbrüche mit Kraftfahrzeugen eingetreten.

Maßnahmen:
Es wurden Pioniermaßnahmen zur Verstärkung der Sperren eingeleitet.
Die Schwerpunkte in den Abschnitten I, II und IV wurden beseitigt. Im Abschnitt I waren z.B. 17 Grenzdurchbrüche zu verzeichnen.

Die Pioniermaßnahmen wurden durch Ziehen von Gräben, Legen von Betonplatten und Betonschwellen verbessert. In der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag (16. zum 17.09.) wurden 59 gesperrte Straßenübergänge zusätzlich mit Straßenschwellen gesperrt.

In der Nacht vom Sonntag zum Montag (17. zum 18.09.) wurden Gräben gezogen. Diese Maßnahmen reichen noch nicht aus. Mit Unterstützung des Magistrats des demokratischen Berlin müssen schnell weitere Sperrmaßnahmen durchgeführt werden wie, Gräben ziehen, Straßen aufreißen, Schwellen legen, Sandaufschüttungen usw.

Der Stab des Ministeriums des Innern hat geplant, im Abschnitt der I. Abteilung (Nordabschnitt) und im Abschnitt der VI. Abteilung 18 bis 20 km Grenzmauer zu errichten. Bis zur Fertigstellung sollen Gräben gezogen werden.

Außerdem ist die Kanalisation zu beachten, wenn auch bisher noch keine Grenzdurchbrüche unter Ausnutzung der Kanalisation erfolgten, so gab es doch einige Versuche. Es bestehen zwar an den Eingängen Gitter, doch es besteht die Möglichkeit unter diesen hindurch zu kriechen. Es wird geprüft, um eine bessere Sicherung der Kanalisationseingänge zu schaffen.

Entschiedene Maßnahmen sind zu treffen in der Bernauer, Harzer Straße u.a. wo die Grenzlinie entlang der Hausgrundstücke verläuft. Es gibt immer noch Fälle des Abseilens aus Wohnungen. Eine vollständige Räumung oder schnellere Räumung unzuverlässiger Elemente muß erfolgen.

Gen. Honecker stellt die Frage, ob die getroffenen Maßnahmen ausreichen, um Kfz-Durchbrüche zu verhindern.

Dazu berichtet Gen. P. Verner:
Die bisherigen Maßnahmen reichen nicht aus, das beweist das Beispiel in der Bouchéstraße. Hier verläuft die Grenze entlang der Bordkante der Straße, d. h. die Hausgrundstücke mit ihren Vorgärten liegen auf Westberliner Gebiet. Der Zaun reicht nicht aus, um Durchbrüche zu verhindern.


Vorschläge
  1. Entlang des Drahtzaunes in der Länge der Straße die Fahrbahn aufreißen oder Betonplatten legen.
    Eine Parteikommission ist eingesetzt, um alles nochmal zu überprüfen.

  2. Es ist erforderlich, neben den Sperren auf der Straße die breiten Bürgersteige zu sichern. Für Fußgänger feste Schleusen einrichten. Ein Kfz darf nicht hindurch können.

  3. Viele Genossen sind der Meinung, daß es nicht zweckmäßig ist, an der sogenannten grünen Grenze eine Mauer zu errichten.
    Sie wirft bei Nacht Schatten und gibt günstige Möglichkeiten der Annäherung für den Gegner.
    Besser wären feste Drahtsperren auf zwei Pfählen mit Verspannungen.

  4. Die Häuser in der Bernauer- und Harzer Straße werden geräumt. 700 auf einmal ist nicht möglich. Die Unzuverlässigen werden mit Kampfgruppen in Zivil umgesiedelt.
Gen. Generalmajor Seifert beantwortet die Fragen des Gen. Honecker wie folgt:

Wir kommen nicht aus ohne Schwellen. Auf solche Straßen, die feste Decken haben, sollten Schwellen gelegt werden.

Wo z. Zt. noch keine Schwellen zur Verfügung stehen, sollen Sandaufschüttungen vorgenommen werden. Hinsichtlich der Mauer, so ist Gen. Seifert der Meinung, kann diese ein starkes Drahthindernis ersetzen. Drahtsperren erfordern mehr Zeit als der Bau der Mauer. Die Mauer soll 2 m hoch gebaut werden.

Gen. Generaloberst Mielke nimmt zu den aufgeworfenen Fragen wie folgt Stellung:

Die Vorschläge für die Pioniermaßnahmen sind geeignet, man sollte jedoch auf den Bau einer Mauer entlang der sogenannten grünen Grenze verzichten. Günstig ist die Drahtsperre, sie ist haltbarer und für die Bekämpfung von Grenzdurchbrüchen geeigneter.

Unsere Sicherungsmaßnahmen an der Grenze haben eine große politische Bedeutung. Gen. Mielke schlägt vor, zur schnellen Durchführung der Pionierarbeiten dem Ministerium des Innern, dem Ministerium für Nationale Verteidigung und dem Ministerium für Staatssicherkeit je einen Abschnitt zuzuweisen.

Gen. Armeegeneral Hoffmann ist der Meinung, daß das Legen von Betonschwellen einen großen Verschleiß an Material darstellt und die einfachste Methode das Aufreißen von Straßen ist, was eigentlich schon in den ersten Tagen nach dem 13.08.1961 beschlossen wurde.

Das Bauen einer Mauer an der sogenannten grünen Grenze ist unzweckmäßig. Drahtzaun mit Betonblöcken und Gräben ist das geeignete.

Zum Vorschlag des Gen. Generaloberst Mielke ist zu sagen, daß die Nationale Volksarmee Maßnahmen an der Staatsgrenze West zu treffen hat und die Mitarbeit an der Staatsgrenze in Berlin zu Verzögerungen führen würde. Es wäre möglich, Pionieroffiziere als Fachleute und Kräfte für 4-5 Tage zur Verfügung zu stellen.

Gen. Generalmajor Weiß machte den Vorschlag, an der grünen Grenze Hunde einzusetzen.

Gen. Honecker faßt die bisherigen Ergebnisse der Beratung zusammen und ordnet an:

  1. Gen. Armeegeneral Hoffmann hat sofort Spezialisten für Pionierarbeiten dem Stab des Ministeriums des Innern zur Verfügung zu stellen.

  2. Gen. Generalmajor Seifert hat mit den Spezialisten die bisherigen Pläne zu überprüfen und einen exakten Plan der weiteren Pioniermaßnahmen auszuarbeiten.
    Abschnitt für Abschnitt sind die erforderlichen Maßnahmen festzulegen wie
    1. wo sind die erforderlichen Gräben mit der entsprechenden Tiefe und Breite zu ziehen,
    2. wo sind Betonpfähle und Höcker zu errichten und wo sind Platten zu legen,
    3. wo und wie werden sichere Personenschleusen eingerichtet, die kein Durchfahren von Fahrzeugen ermöglichen und
    4. wo Straßen in ihrer Länge aufgerissen werden müssen.
  3. Mit der forcierten Verstärkung der pioniermäßigen Schließung der Staatsgrenze in Berlin muß damit gerechnet werden, daß verbrecherische Elemente den Versuch unternehmen, die Staatsgrenze am Westring von Berlin zu durchbrechen. Die Spezialisten sind zu beauftragen, die bisherige Planung und die errichteten Sperren zu prüfen.
    Alle Wege, die nach Westberlin führen, sind mit tiefen Gräben zu sichern. Die Drahtsperren sind zu verstärken und durch Panzerhindernisse ist zu gewährleisten, daß kein Fahrzeug durchbrechen kann.

  4. Die Sperrzone von 100 m ist konsequent durchzusetzen. Es ist ein strenges militärisches Regime einzuführen.
    In diesem Gebiet sind nur die eingesetzten Kommandeure der Grenz-Brigade verantwortlich.

  5. Mit den Vorständen der LPG ist festzulegen, daß in der 100 m Sperrzone nur niedrige Kulturen anzubauen sind.

  6. Im Plan für die Beschleunigung der Pioniermaßnahmen ist festzulegen, in welchen Abschnitten die Kräfte der Nationalen Volksarmee für 4-5 Tage, die Kräfte des Ministeriums für Staatssicherheit und die Kräfte des Ministeriums des Innern, eingesetzt werden.

  7. Gen. Generalmajor Seifert hat täglich abends (Zeitpunkt wird noch festgelegt) über den Stand der Durchführung der Pioniermaßnahmen zu berichten.

  8. Gegen Verräter und Grenzverletzer ist die Schußwaffe anzuwenden. Es sind solche Maßnahmen zu treffen, daß Verbrecher in der 100 m Sperrzone gestellt werden können. Beobachtungs- und Schußfeld ist in der Sperrzone zu schaffen.

  9. Es sind Maßnahmen einzuleiten, die zur Erhöhung der Wachsamkeit führen und das klassenmäßige Verhalten jedes Posten erhöhen und festigen. Der Einsatz von Offizierskontrollen ist zu verstärken. Die Verbindung der Offiziere zu den Soldaten ist zu verbessern. Jedem Angehörigen der bewaffneten Kräfte ist ideologisch überzeugend klarzumachen, daß er einen Kampfauftrag zur Sicherung des Friedens an der Staatsgrenze zu erfüllen hat.

  10. Die Umsiedlung der Häuser in den bekannten Straßenzügen ist nach einem Plan durchzuführen. Zu beschleunigen ist die Aussiedlung feindlicher und schwankender Elemente.

  11. Gen. Generalmajor Seifert hat zu prüfen, ob es zweckmäßig ist, an bestimmten Grenzabschnitten berittene Streifen einzusetzen.
gez. Exner

Quelle: Werner Filmer/Heribert Schwan, Opfer der Mauer. Die geheimen Protokolle des Todes, München 1991, S. 374-380.
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