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Hans-Hermann Hertle, 4. November 1989, Demonstration in Ost-Berlin: Angst vor Mauerdurchbrüchen

Hans-Hermann Hertle
Chronik des Mauerfalls
Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989

Ch. Links Verlag, Berlin 1999

4.11.1989: Angst vor Mauerdurchbrüchen



Mit der großen Demonstration am 4. November in Berlin und der Kundgebung auf dem Alexanderplatz ging die Initiative des politischen Handelns endgültig von der Volksbewegung auf der Straße aus. So umfassend wie möglich hatte der SED-Machtapparat durch die ihm eigene Verschränkung von Partei und bewaffneten Organen versucht, auf diese Demonstration Einfluß zu nehmen, die auf Veranlassung des Politbüros als eine durch „die zuständigen Staatsorgane genehmigte Veranstaltung" durchgeführt wurde. [1] Dazu zählten einerseits defensive militärische und polizeiliche Maßnahmen: Staatssicherheitsminister Mielke, der Minister für Nationale Verteidigung, Keßler, und Innenminister Dickel wurden vom Politbüro für die Koordination „der erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen" verantwortlich gemacht, und der Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates, Streletz, wurde beauftragt, „alle notwendigen Maßnahmen einzuleiten, um den Schutz der Arbeiter- und-Bauern-Macht der DDR zu gewährleisten" [2].

Wieder geisterte die Angst durch die SED-Spitze, die Demonstration könnte zu einem Sturm auf die Mauer führen. Auf diese Möglichkeit und die für diesen Fall geplanten Maßnahmen hatte Krenz am 1. November bereits vorsorglich Gorbatschow hingewiesen: Zwar sei er entschlossen, am 4. November keine Polizei gegen die Demonstranten einzusetzen. Wenn jedoch „ein Massendurchbruch durch die Mauer versucht werde, müßte die Polizei eingesetzt und müßten gewisse Elemente eines Ausnahmezustandes eingeführt werden". [3]

Am Morgen des 4. November befand sich das Kommando der Landstreitkräfte in einem gedeckten Alarmzustand. Um die befürchteten Grenzdurchbrüche zu verhindern, erfolgte eine demonstrativ sichtbare Staffelung militärisch ausgerüsteter Kräfte vor allem im Umkreis des Brandenburger Tores, während die sonstigen Einsatzkräfte in deutlicher Distanz zum Demonstrationsort im Hintergrund gehalten wurden.

Daneben waren andererseits abgestufte Maßnahmen zur politischen Einflußnahme getroffen worden. Um eine republikweite Beteiligung zu verhindern, wurden die SED-Bezirksleitungen angewiesen, „Maßnahmen einzuleiten, damit die Teilnehmerzahlen von Bürgern ihrer Bezirke zur Teilnahme an der Demonstration in Berlin möglichst eingeschränkt werden". [4] Die SED-Bezirksleitung Berlin und das MfS hatten Informanten im Vorbereitungskomitee der Veranstaltung, die sie auf dem laufenden hielten und den organisatorischen und inhaltlichen Ablauf der Veranstaltung nach Möglichkeit beeinflussen sollten. Zu den weiteren Maßnahmen gehörte die Aufbietung sogenannter „gesellschaftlicher Kräfte" im Demonstrationszug seitens des MfS und der Berliner SED-Parteiorganisation sowie die Bereithaltung einer ideologischen Eingreifreserve von Parteimitgliedern im Palast der Republik. Schließlich war es der SED-Spitze gelungen, Politbüro-Mitglied Günter Schabowski auf die Rednerliste der Abschlußkundgebung zu setzen.

Auf einer Sondersitzung veranlaßte das Politbüro am Nachmittag des 3. November letzte organisatorische Maßnahmen: Krenz und Stoph sowie die für die bewaffneten Organe zuständigen Politbüro-Mitglieder und Minister übernahmen die militärische und polizeiliche Einsatzleitung im MdI, die Führungsstelle der Berliner Parteiorganisation wurde ins Präsidium der Volkspolizei verlegt, das Rest-Politbüro sowie alle Mitarbeiter des Zentralkomitees wurden zur Anwesenheit im ZK-Gebäude verpflichtet [5] und für alle Ministerien Dienstbereitschaft angeordnet. [6] Danach versicherte Egon Krenz am Vorabend der Demonstration in einer Fernseh- und Rundfunkansprache den Erneuerungswillen der SED („Ein Zurück gibt es nicht"), versprach unter anderem die baldige Veröffentlichung des Reisegesetz-Entwurfes, kündigte den Rücktritt der fünf Politbüro-Veteranen Hermann Axen, Kurt Hager, Erich Mielke, Erich Mückenberger und Alfred Neumann an und wies auf einige Punkte des in Vorbereitung befindlichen Aktionsprogrammes der SED hin. Krenz rief die Ausreisewilligen auf, im Land zu bleiben, und appellierte an alle „Mitbürgerinnen und Mitbürger, zusammenzustehen, um das zu erhalten, was wir in Jahrzehnten an Werten geschaffen haben. Gemeinsam wollen wir auch das Neue in Angriff nehmen. Nur so wird es möglich sein, Schritt für Schritt unsere Gesellschaft neu zu ordnen. Lassen Sie uns in diesem Sinne entschlossen und vor allem besonnen ans Werk gehen und in harter Arbeit die vielen Probleme lösen, die vor uns stehen. Wünschen wir uns dabei Erfolg, Schaffenskraft und Gesundheit." [7]

Von den Fenstern des ZK-Gebäudes mußten Politbüro-Mitglieder und ZK-Mitarbeiter am nächsten Morgen den wenige hundert Meter entfernten Vorbeimarsch der Demonstranten wie aus einem Versteck beobachten, statt wie gewohnt den defilierenden Massen von der Ehrentribüne aus zuwinken zu können. Einige Politbüro-Mitglieder ergriff nackte Furcht: Rings um den Alexanderplatz versammelten sich bis zehn Uhr mehrere hunderttausend Menschen, die Presse- und Meinungsfreiheit, Parteienvielfalt, freie Wahlen und die Abschaffung aller Privilegien der SED-Nomenklatura forderten sowie Reisefreiheit („Pässe für alle", „Visafrei – bis Hawai"). Die von Krenz am Vorabend angekündigten Reformvorschläge des SED-Aktionsprogramms blieben damit bereits im Denkansatz weit hinter den Forderungen der Demonstranten zurück. Einer von neun Sprechchören, der an diesem Tag nur von den Mitarbeitern der Staatssicherheit registriert wurde, lautete: „Deutschland – einig Vaterland".

Quelle: Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Ch. Links Verlag, Berlin 1999.
[1] Vgl. Protokoll Nr. 47 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 31. 10. 1989 (SAPMO-BArch, ZPA-SED, J IV 2 / 2 / 2356). – Aus dem Versuch der Einflußnahme die These zu konstruieren, das MfS und die Berliner Bezirksleitung der SED hätten die Regie dieser Veranstaltung geführt (vgl. Der Spiegel Nr. 45, 6. 11. 1995, S. 3 und 72 – 79), ist abwegig. Walter Süß hat diese Behauptung detailliert widerlegt (vgl. Süß 1995, S. 1240 – 1252). [2] Protokoll Nr. 47 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 31. 10. 1989 (SAPMO-BArch, ZPA-SED, J IV 2 / 2 / 2356). [3] Ebd., S. 31. [4] Ebd., S. 5. [5] Protokoll Nr. 48 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 3. 11. 1989 (SAPMO-BArch, ZPA-SED, J IV 2 / 2 / 2357). [6] Fernschreiben von Kleiber an alle Minister und Leiter zentraler Staatsorgane in Berlin, Oberbürgermeister von Berlin, 3. 11. 1989, 16.30 Uhr (BStU, ZA, MfS-SdM 51, Bl. 2). [7] Neues Deutschland, 4. 11. 1989.
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