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Hans-Hermann Hertle, 8. November 1989: Das Ultimatum der CSSR

Hans-Hermann Hertle, 8. November 1989: Das Ultimatum der CSSR

Hans-Hermann Hertle
Chronik des Mauerfalls
Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989

Ch. Links Verlag, Berlin 1999

8.11.1989: Das Ultimatum der CSSR



Am Mittwoch, dem 8. November, nahm der Druck der CSSR auf die DDR ultimative Formen an. DDR-Botschafter Ziebart wurde in Prag zur Entgegennahme eines Ersuchens in das tschechoslowakische Außenministerium einbestellt. Bei der Regierung der CSSR und im ZK der Kommunistischen Partei, hielt ihm der stellvertretende CSSR-Außenminister Sadovsky vor, stapelten sich Anfragen und Eingaben der Bevölkerung aus Nord- und Westböhmen, in denen Unverständnis darüber geäußert werde, daß die Ausreise von DDR-Bürgern in die BRD seit dem 3. November über CSSR-Territorium abgewickelt werde. Ziebart telegraphierte nach Berlin: "'Ausgehend von diesem Druck' in den beiden genannten, aber auch anderen Bezirken der CSSR, bat Genosse Sadovsky 'im Auftrag der Regierung der CSSR und der Abteilung Internationale Politik des ZK' das Ersuchen zu übermitteln, die Ausreise von DDR-Bürgern in die BRD 'direkt und nicht über das Territorium der CSSR' abzuwickeln." [1] Der Hinweis Ziebarts, daß in der DDR bereits seit dem Vortage erwogen werde, "Ausreiseregelungen vor Annahme des Reisegesetzes zu treffen", genügte dem CSSR-Diplomaten nicht. [2] Das MfAA leitete diese diplomatisch-höflich formulierte, im Unterton aber unmißverständlich scharfe Aufforderung unverzüglich an die mit der Ausreiseregelung befaßten Stellen weiter.

Die SED-Führung war an diesem Mittwoch zunächst mit wichtigeren Dingen befaßt. Entgegen ihrer Hoffnung nahm der erste Tag der ZK-Tagung an diesem 8. November nicht den ersehnten Verlauf. Statt des beabsichtigten Signals für die Reformbereitschaft und Erneuerungsfähigkeit der SED bot sie ein Spiegelbild der landesweiten Zerfallserscheinungen der Einheitspartei.

Üblicherweise wurden Kaderfragen am Schluß von ZK-Sitzungen behandelt. Der taktische Schachzug, nach dem Rücktritt des Ministerrates vom Vortage den geschlossenen Rücktritt des Politbüros an den Beginn des ZK-Plenums zu stellen, mit der Wahl neuer Politbüro-Mitglieder personellen Veränderungswillen zu demonstrieren und damit die anstehende konzeptionelle und programmatische Diskussion frei von Kaderquerelen zu halten, ging nicht auf. Drei der von Krenz vorgeschlagenen Kandidaten – Horst Dohlus, Günther Kleiber und Gerhard Müller – versagte das Plenum die erforderliche Stimmenzahl; vier der am Morgen gewählten Politbüro-Mitglieder – Hans-Joachim Böhme, Johannes Chemnitzer, Inge Lange, Werner Walde – wurde noch am gleichen Abend das Vertrauen ihrer Bezirksorganisationen bzw. der Mitarbeiter ihres Zuständigkeitsbereiches entzogen, teilweise nach Streikandrohungen aus den Kombinaten. Zustande kam ein 14köpfiges Rumpf-Politbüro, dessen von Honecker über die Jahre aufgebaute Repräsentanzfunktion zerstört war.

Selbst die von Krenz vorgenommene Ehrung der ausgeschiedenen Politbüro-Mitglieder Axen, Hager, Krolikowski, Mielke, Mückenberger, Neumann, Sindermann, Stoph und Tisch blieb nicht unwidersprochen; über die Frage, ob ihre Tätigkeit nicht statt Dank eher harte Kritik verdiene, entbrannte ein heftiger Streit, der erst mit einer Abstimmung zugunsten der Danksagung entschieden wurde. [3] Während Krenz im Plenum zu seinem mehrstündigen Referat anhob, versammelten sich vor dem ZK-Gebäude, von der Parteiorganisation der Akademie der Wissenschaften angeführt, mehr als 10 000 Mitglieder der Berliner SED zu einer Demonstration gegen die eigene Parteispitze. Die Einheitspartei begann sich zu spalten. Irgendwann an diesem für sie chaotischen Tag, bekunden Egon Krenz und Wolfgang Herger im nachhinein, stimmten sie sich noch einmal ab, die Regierung zu drängen, dem Zentralkomitee die Reiseregelung bis zum Mittag des 9. November vorzulegen. Wolfgang Herger, am Morgen ins Politbüro gewählt und als ZK-Sekretär für Sicherheit eingesetzt, machte den Verantwortlichen im MdI Druck.

Am Vorabend des 9. November richtete Christa Wolf im Namen prominenter Schriftstellerkollegen und von Repräsentanten aller Gruppen der Bürgerbewegungen in der "Aktuellen Kamera" einen eindringlichen Appell an alle Ausreisewilligen, ihre Entscheidung zu überdenken und in der DDR zu bleiben: "Wir bitten Sie, bleiben Sie doch in Ihrer Heimat, bleiben Sie bei uns! Was können wir Ihnen versprechen? Kein leichtes, aber ein nützliches und interessantes Leben. Keinen schnellen Wohlstand, aber Mitwirkung an großen Veränderungen. Wir wollen einstehen für Demokratisierung, freie Wahlen, Rechtssicherheit und Freizügigkeit. Unübersehbar ist: Jahrzehntealte Verkrustungen sind in Wochen aufgebrochen worden. Wir stehen erst am Anfang des grundlegenden Wandels in unserem Land. Helfen Sie uns, eine wahrhaft demokratische Gesellschaft zu gestalten, die auch die Vision eines demokratischen Sozialismus bewahrt. Kein Traum, wenn Sie mit uns verhindern, daß er wieder im Keim erstickt wird. Fassen Sie zu sich und zu uns, die wir hierbleiben wollen, Vertrauen." [4]

Quelle: Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Ch. Links Verlag, Berlin 1999.
[1] Telegramm von Ziebart an Fischer / Ott / Schwiesau, 8. 11. 1989 (BStU, ZA, MfS-Arbeitsbereich Neiber 553, Bl. 2). [2] Ebd. [3] Vgl. Stenographische Niederschrift der 10. Tagung des Zentralkomitees der SED, 8. 11. 1989 (SAPMO-BArch, ZPA-SED, IV 2 / 1 / 705, Bl. 60e ff.). [4] Der Appell erschien am 9. 11. 1989 auf der ersten Seite des "Neuen Deutschland" und war unterzeichnet von Christa Wolf, Ulrich Plenzdorf, Stefan Heym, Volker Braun, Ruth Berghaus, Christoph Hein, Kurt Masur, Bärbel Bohley (Neues Forum), Erhard Neubert (Demokratischer Aufbruch), Uta Forstbauer (Sozialdemokratische Partei), Hans-Jürgen Fischbeck (Demokratie Jetzt) und Gerhard Poppe (Initiative Frieden und Menschenrechte).
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