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Hans-Hermann Hertle, 9./10. November 1989: Handlungsunfähigkeit des SED-Zentralkomitees

Hans-Hermann Hertle, 9./10. November 1989: Handlungsunfähigkeit des SED- Zentralkomitees

Hans-Hermann Hertle
Chronik des Mauerfalls
Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989

Ch. Links Verlag, Berlin 1999

Handlungsunfähigkeit des Zentralkomitees



Wie die auswärtigen ZK-Mitglieder in das Gästehaus der SED und die NVA-Generäle nach Strausberg, so hatten sich die meisten Mitglieder des neuen Politbüros am 9. November nach dem Ende der ZK-Sitzung um 20.45 Uhr auf den Heimweg begeben.

Auf der Politbüro-Etage des ZK-Gebäudes blieb nur noch eine kleine Gruppe von ZK-Mitgliedern zurück, zu der auch Professor Helmut Koziolek und Eberhard Heinrich gehörten. Sie befaßte sich mit der Endredaktion des SED-Aktionsprogramms. Mit seinem Vorschlag, den Gedanken einer Konföderation mit der Bundesrepublik in das Programm aufzunehmen, löste Alexander Schalck eine stürmische Kontroverse aus. Schließlich entschied die Mehrheit, lieber völlig auf eine Aussage zu den künftigen Beziehungen mit der Bundesrepublik zu verzichten als eine solche „Verrats"-Forderung in das Programm aufzunehmen. Als die Programmarbeiten abgeschlossen und Koziolek und Heinrich im Begriff waren, das Gebäude zu verlassen – in der Erinnerung Kozioleks zwischen 22.30 Uhr und 23.00 Uhr –, begegneten sie auf dem Flur einem einsam und verstört wirkenden Egon Krenz. „Was soll ich denn nur machen?" habe der Generalsekretär unentschlossen geklagt und die verdutzten ZK-Mitglieder über die komplizierte Lage an der Grenze aufgeklärt. „Es kann doch nicht um eine Grenzschließung gehen! Wir müssen das unter Kontrolle bekommen", behielt Koziolek die Worte des Generalsekretärs im Gedächtnis. [1]

Nach einem kurzen Fußweg erreichte Günter Sieber seine Wohnung in der Nähe des Alexanderplatzes. [2] Über den Fernseher drang die Kunde von Schabowskis Pressekonferenz und die Lage an den Grenzübergängen in seine Stube. Sieber, dem als langjährigem Leiter der ZK-Abteilung Internationale Verbindungen vor allem die außenpolitische Dimension der Grenzöffnung vor Augen stand, stürzte ans Telefon, um Krenz zu den Hintergründen zu befragen. Doch der Generalsekretär erwies sich als nicht auskunftsfähig: Er verstünde selbst nicht, was passiert sei, vernahm Sieber nur. Auch ein Telefonat mit Jochen Willerding, ebenfalls seit einemTag im Politbüro und als Nachfolger Axens ZK-Sekretär für Außenpolitik, brachte ihm keine neuen Erkenntnisse. So blieb Sieber daheim.

Bevor Wolfgang Rauchfuß die Heimfahrt antrat, hatte er sich noch den Leitern der Wirtschaftsabteilungen des Zentralkomitees als neues Mitglied des Politbüros sowie als für Ökonomie, Handel und Versorgung zuständiger ZK-Sekretär vorgestellt. Die Information über Schabowskis Pressekonferenz erreichte ihn schon unterwegs, doch ihre Folgen nahm er erst wahr, als er gegen halb zwölf mit dem Auto in Richtung Pankow nach Hause fuhr und dabei die Bornholmer Straße kreuzte. 'Jetzt ist es aus', schoß es ihm durch den Kopf, als er die Menschenmassen in langen Schlangen Richtung Grenze strömen sah. Doch erwarteten ihn weder ein Anruf noch eine Einladung zu einer Krisensitzung, als er zu Hause eintraf. Auch Wolfgang Rauchfuß blieb in dieser Nacht zu Hause. [3]

Hans Modrow, der designierte Ministerpräsident, wurde auf dem Weg vom Gebäude des Zentralkomitees zum Gästehaus der SED von den Folgen der Pressekonferenz, die auch er nicht mitbekommen hatte, überrascht. [4] Ein junger Mann sprach ihn an und fragte, an welchem Übergang er die DDR am schnellsten verlassen könne. Modrow, der ihn auf den nächsten Morgen verwies, sah sich heftigem Widerspruch ausgesetzt und erfuhr zu seinem Erstaunen, daß die Grenzübergänge – Meldungen in Rundfunk und Fernsehen zufolge – bereits geöffnet seien. „Ohne daß ich diese Wirkung der Pressekonferenz mitgekriegt hatte", sagt Hans Modrow, „war mir mit einemmal klar: Hier muß irgend etwas schieflaufen." In seinem Hotelzimmer angekommen, sah er die Bilder der Pressekonferenz im Fernsehen. Anrufe erhielt Modrow nicht – weder von Krenz noch von sonst jemandem. Wie sollte er sich verhalten? Zwar war er bereits als künftiger Ministerpräsident von seiner Partei nominiert und die alte Regierung zurückgetreten, doch noch amtierte Stoph. „Für mich bin ich davon ausgegangen", schildert Modrow seine Überlegungen, „du kannst in Prozesse, in die du nicht einbezogen bist, auch nicht versuchen einzugreifen. Da kannst du nur Durcheinander schaffen. Als Ministerpräsident bin ich zwar benannt, kann aber nicht so handeln; ich wollte auch niemandem Probleme bringen. Ich bin davon ausgegangen: Es bleibt dir nichts anderes übrig, als am nächsten Morgen zu sehen, was los ist."

Als Wolfgang Herger sich gegen halb elf seiner Wohnung in der Wisbyer Straße, einer Verlängerung der Bornholmer Straße näherte, traute er kaum seinen Augen: Der Rückstau der Trabbis von der zwei Kilometer entfernten Brücke nach West-Berlin reichte bis an seine Hausecke. Er eilte in seine Wohnung, schaltete den Fernseher ein und vernahm zu seinem Erstaunen, daß die Tore in der Mauer weit offen stünden. In sein Arbeitsbuch notierte Herger an diesem Abend: „Heute haben wir entweder einen strategischen Fehler gemacht oder eine strategische Flucht nach vorn. Die Wisbyer Straße ist voller Autos – Richtung Westberlin. Die Grenze ist de facto geöffnet. Man fährt und läuft hin und her, obwohl wir heute ganz anderes beschlossen haben. Es sollte wieder über das „Amt" gehen, doch das wurde ignoriert. Die Leute sind mit dem Personalausweis an die Grenze gegangen. Jetzt liegt es an der BRD-Seite, wie überhaupt noch zu stoppen ist. Sie können die Grenze nicht schließen, und wir wollen es nicht." [5]

Der Gedanke, ohnehin frühmorgens im Politbüro und im Zentralkomitee zusammenzukommen und in den führenden Gremien der Partei erforderliche Maßnahmen einleiten zu können, mochte den Mitgliedern des Politbüros über ihre nächtliche Ohnmacht und Ratlosigkeit hinweghelfen. Um 9.05 Uhr nahm das ZK-Plenum seine Beratungen wieder auf. Regulär sollte es um 18.00 Uhr mit der Verabschiedung des Aktionsprogramms beendet werden, mit dem die SED ihren Willen zu einer politischen Neuorientierung nachdrücklich unterstreichen wollte. Statt dessen war nun jedoch bereits vor Beginn der Sitzung die Lage an der Grenze das beherrschende Thema aller Gespräche in der Frühstücks-Kantine und im Foyer des Plenarsaales geworden. War eine günstigere Gelegenheit denkbar als diese Tagung des Zentralkomitees, in dem die Partei- und Staatselite versammelt war, um sofort die mit dem Fall der Mauer entstandene neue strategische Lage der DDR zu debattieren und unmittelbar erforderliche politische Schritte einzuleiten?

Das zwischen den Parteitagen höchste Beschlußgremium der SED war dazu nicht in der Lage. Es zeigte sich unwillig und unfähig, das Problem überhaupt zur Kenntnis zu nehmen und sich mit der neuen Durchlässigkeit der Staatsgrenze und dem Zusammenbruch des bisherigen Grenzregimes zu befassen. Krenz eröffnete die Sitzung, ohne auch nur ein einziges Wort zum Fall der Mauer oder zur aktuellen Lage an der Grenze zu verlieren – und rief damit keinen Widerspruch hervor. Seine Absicht, die Diskussion dort fortzusetzen, wo sie am Vorabend abgebrochen worden war, und Gerhard Schürer das Wort zu einem Beitrag über die Wirtschaftslage zu erteilen, wurde dann aber aus einem ganz anderen Grund von einem Antrag zur Geschäftsordnung durchkreuzt. Einige der gerade erst gewählten Mitglieder des Politbüros, so hieß es, würden von der Basis nicht akzeptiert, weshalb die Kaderfrage sofort auf die Tagesordnung gehöre. Vornehmlich jüngere ZK-Mitglieder befürchteten den Verlust ihrer eigenen Ämter, wenn nicht zumindest einige der älteren und führenden Genossen, die für den Zustand des Landes verantwortlich wären, freiwillig ihren Rücktritt aus dem Zentralkomitee erklärten. Nur mit Mühe gelang es Krenz, diese Debatte abzubrechen.

Dann entsetzte Schürer das Plenum mit einer neuerlichen, vernichtenden Bilanz der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik", dem von der Partei als zentral betrachteten Instrument zur Sicherung der Massenloyalität: „Mit dem sozialpolitischen Programm 1971, das – so muß ich sagen – so große und positive Wirkungen hatte, wurde die Weiche, wenn damals auch nur um Zentimeter, in die falsche Richtung gestellt. Von da an fuhr der Zug von den Realitäten weg, und zwar immer schneller." [6] Werner Jarowinsky ergänzte den Bericht Schürers, der die Verrottung ganzer Industriezweige sowie den gigantischen Anstieg der Subventionen und der Verschuldung anprangerte, mit Informationen zur Kosten- und Ertragslage in der Mikroelektronik-Industrie, der im Mittagschen Konzept die Rolle eines Zugpferdes der Volkswirtschaft zugedacht war: 12 bis 14 Milliarden Mark seien in den Jahren zuvor mit dem Ergebnis investiert worden, daß der 64-Kilobit-Chip zum reinen Selbstkostenpreis von 40 Mark, der 256-Kilobit-Chip von 534 Mark hergestellt werde. Der Weltmarktpreis für diese Speicherschaltkreise betrage dagegen lediglich 1,– bis 1,50 VM im ersten bzw. 4,– bis 5,– VM im zweiten Fall. [7] Auf Zwischenrufe eingehend, warum die Politbüro-Mitglieder sehenden Auges alle Fehlentscheidungen dieser desaströsen Wirtschaftspolitik mitgetragen hätten, anstatt auf Veränderungen zu drängen, gestand Jarowinsky: „Es war die Angst und die Furcht vor solch rigorosen Eingriffen, die, wie in Polen, eine solche Lage hätten schaffen können des Absinkens des Lebensstandards, und die Angst, vor dem Volk diese Konsequenzen offen darzulegen und das Volk um Mithilfe zu bitten." [8]

Während die Debatte sofort personalisiert wurde und ein Streit über Jarowinskys Eignung für einen weiteren Verbleib im Politbüro losbrach, erfuhr Krenz durch Streletz vom dritten Anruf des sowjetischen Botschafters in Folge. Kotschemassow teilte Moskaus Verstimmung über den Fall der Mauer mit und verlangte von der SED-Spitze in barschem Ton, sich dazu gegenüber Gorbatschow zu erklären. [9] Erst jetzt, gegen 10.00 Uhr, sah sich Krenz unter dem Druck der Sowjets auch im ZK zu einer Stellungnahme veranlaßt: „Genossen, ich bitte um Verständnis. Ich weiß nicht oder ob viele den Ernst der Lage erkannt haben. Der Druck, der bis gestern auf die tschechoslowakische Grenze gerichtet war, ist seit heute Nacht auf unsere Grenze gerichtet. (...) Der Druck war nicht zu halten, es hätte nur eine militärische Lösung gegeben, Genossen, damit wir uns einig sind, durch das besonnene Verhalten unserer Grenzsoldaten, unserer Genossen vom MdI, vom MfS ist die Sache mit großer Ruhe bewältigt worden (...). Aber der Druck nimmt weiter zu." [10] Im Plenum erzeugte diese Einlassung keinerlei Resonanz. Entsetzen und Empörung der ZK-Mitglieder galten der katastrophalen Wirtschaftslage und verschafften sich erneut in Forderungen nach personellen Konsequenzen Luft. Diese klangen erst ab, nachdem Hans-Joachim Böhme, Johannes Chemnitzer, Werner Walde und Inge Lange ihren Rücktritt aus dem Politbüro bekanntgegeben hatten, Helmut Semmelmann als Sekretär für Landwirtschaft neu hineingewählt worden war und Krenz sich schließlich weiteren Rücktrittsforderungen an Politbüro-Mitglieder mit der Drohung entgegenstellte, in diesem Fall die Vertrauensfrage als Generalsekretär zu stellen.

Die Fortsetzung der Diskussion war gespenstisch: Der stellvertretende Stasi-Chef Rudi Mittig und Kurt Hager verlasen ihre vorbereiteten Beiträge; der eine über die Lage der DDR aus der Sicht des MfS, der andere über seine Verantwortung, die Wende und die Gefahr einer Konterrevolution. Als letzter Diskussionsredner kam schließlich Günter Schabowski zu Wort. Er äußerte sich über die alten Fehler und den zukünftigen Inhalt der Medienpolitik.

Nach einer halbstündigen Pause stellte Siegfried Lorenz als Vorsitzender der entsprechenden Kommission ab 11.35 Uhr die Grundzüge des neuen Aktionsprogramm-Entwurfs vor. Indem die SED darin einräumte, eine 'revolutionäre Volksbewegung' habe einen Prozeß gravierender Umwälzungen in Gang gesetzt, war dessen Interpretation als Konterrevolution kaum noch möglich. Das Programm kündigte umfassende Reformen an. Dazu gehörten unter anderem:
  • freie, allgemeine, demokratische und geheime Wahlen;
  • eine demokratische Koalitionsregierung mit den Blockparteien;
  • eine „an den Marktbedingungen orientierte sozialistische Planwirtschaft";
  • die Zulassung „neuer politischer Vereinigungen auf dem Boden der Verfassung";
  • innerparteiliche Reformen wie die Zulassung mehrerer Kandidaten bei Wahlen, die zeitliche Begrenzung von Wahlämtern, die Einführung einer Pensionsgrenze für Funktionäre sowie die Vorrangstellung gewählter Organe gegenüber dem Parteiapparat;
  • die Entflechtung von Partei und Staat;
  • die Nichteinmischung in die Politik der FDJ und die Achtung der Selbständigkeit des FDGB.
Ziel dieser Reformen sei es, „dem Sozialismus in der DDR mit mehr Demokratie eine neue Dynamik zu verleihen". [11] Doch die neue Dynamik erfaßte die ZK-Mitglieder nicht. Die Diskussion blieb bei der einleitenden Formulierung stecken, das Zentralkomitee habe zugelassen, daß ernste Fehler des abgelösten Politbüros Partei und Republik in eine tiefe Krise gestürzt hätten. Während einige Mitglieder des ZK die Übernahme jeglicher Verantwortung ablehnten und geltend machten, daß das Zentralkomitee jahrelang belogen worden sei, warnten andere vor der öffentlichen Resonanz, falls sich das Zentralkomitee von jeder Verantwortung freispreche.

In die immer stürmischer werdende Schulddiskussion platzte Schabowski gegen 12.30 Uhr mit Informationen über die aktuelle Lage in der DDR, die Krenz unverzüglich dem Plenum bekanntgab: Die Lage habe sich „äußerst zugespitzt. Es macht sich Panik und Chaos breit." Arbeiter in Berlin und Potsdam verließen die Betriebe, um sich an den Meldestellen der Volkspolizei für Visa anzustellen. „Im Parteiaktiv", so die zentrale Aussage, „herrscht Unverständnis zu den beschlossenen Reisemöglichkeiten. (...) Die Beunruhigung unter den Genossen ist groß, weil niemand die ökonomischen Auswirkungen und Konsequenzen richtig voraussehen kann. Es herrscht die Meinung vor: Wir stehen vor dem Ausverkauf." [12]

Diese Lage hatte bereits am frühen Morgen bestanden; das wirklich Neue war einzig und allein, daß sie zum ersten Mal laut ausgesprochen wurde. Panik, Chaos und eine allgemeine Auflösungsstimmung breiteten sich nun im ZK-Plenum aus. Zwar war die Stoph-Regierung zurückgetreten, aber formal amtierte sie noch. Völlig kopflos kündigte Krenz als Initiative an, was Schabowski ihm als Vorschlag zugeflüstert hatte: Modrow und Schabowski würden sofort Kontakt zu den Vorsitzenden der Blockparteien aufnehmen, um „unmittelbar eine Regierung (zu) bilden". Man müsse den Modus klären, „daß die Regierung handlungsfähig ist, auch wenn sie nicht gewählt ist". [13] Es wurde beschlossen, die ZK-Tagung schnellstmöglich zu beenden, „damit wir an unsere Kampfplätze gehen können" und um, wie Hermann Axen forderte, „die notwendigen Maßnahmen zur Sicherung des Sozialismus zu ergreifen". [14] An welche Rettungsmaßnahmen er konkret dachte, verriet Axen nicht. Kurt Hager sprang ihm zur Seite und schlug als wichtigste Maßnahme einen Appell an die Bevölkerung vor, "in dem klar gesagt wird – ich will mich mal noch nicht druckreif ausdrücken –: Jetzt ist Ruhe die erste Bürgerpflicht." [15] Das Aktionsprogramm wurde ohne weitere Diskussion bestätigt und – wie üblich – der für die Öffentlichkeit bestimmte Entwurf des Abschlußkommuniqués Wort für Wort verlesen und abgestimmt. Den darin enthaltenen Passus, daß das Zentralkomitee der Regierung die Inkraftsetzung der Reiseregelung empfohlen habe, die zum Fall der Mauer führte, ließ Krenz in letzter Minute ohne weitere Begründung einfach streichen. [16] Indem der zurückgetretene Ministerrat nach außen nun als alleiniger Urheber der Reiseverordnung dastand, schuf Krenz in der noch unklaren Situation die Voraussetzung dafür, daß das Zentralkomitee und das Politbüro bei Bedarf jederzeit auf Distanz zu „dessen" Beschluß gehen konnten. Abschließend forderte Krenz die Ersten Sekretäre der Bezirksleitungen – „egal, ob sie noch Verantwortung tragen oder nicht", schließlich waren sie die Chefs der Bezirkseinsatzleitungen – sowie die Mitglieder des Politbüros und des Sekretariats des ZK auf, zu einer Beratung über das weitere Vorgehen zusammenzukommen, zu der „aufgrund der Lage" (Krenz) auch Stoph, Mielke und Dickel hinzugebeten wurden. [17]

Die 10. Tagung des Zentralkomitees wurde um 13.10 Uhr offiziell geschlossen: Jahrzehntelang auf eine Funktion als Repräsentationsbühne und Akklamationsmaschine für die Politik des Generalsekretärs und des Politbüros ausgerichtet und selbstbeschränkt, erwies sich das Zentralkomitee in der die Parteiherrschaft akut bedrohenden Situation als strukturell unfähig, durch kollektive Willensbildung und Entscheidungsfindung zu einer neuen Rolle als politikstrukturierendes Gremium zu finden. Seine Auflösung am 3. Dezember war nur noch der formelle Nachvollzug des politischen Abdankens am Tag des Mauerfalls.

Die politische Bewältigung der größten Existenzkrise der DDR seit dem 17. Juni 1953 und dem Bau der Mauer am 13. August 1961 war damit ausschließlich der operativen Politik des Generalsekretärs, seiner engsten Vertrauten und deren apparativen Stäben überlassen. Die Spurenverwischung von Krenz im Zentralkomitee und seine Scheu vor der Öffentlichkeit machten Sinn. Was der Generalsekretär den Mitgliedern des Zentralkomitees vorenthielt und möglicherweise auch auf der darauf folgenden Spitzenberatung zumindest nicht im Detail verriet [18], war, daß er zur Bewältigung der Lage bereits am frühen Morgen die Einrichtung einer „operativen Führungsgruppe" des Nationalen Verteidigungsrates befohlen hatte. Und seit den Mittagsstunden war eine militärische Aktion zur Wiederherstellung von „Ruhe und Ordnung" an der Berliner Mauer nicht länger ausgeschlossen.

Quelle: Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Ch. Links Verlag, Berlin 1999.
[1] Gespräch d. Vf. mit Helmut Koziolek, 6. 10. 1994. [2] Gespräch d. Vf. mit Günter Sieber, 20. 10. 1993. [3] Gespräch d. Vf. mit Wolfgang Rauchfuß, 26. 7. 1993. [4] Gespräch d. Vf. mit Hans Modrow, 4. 1. 1995; Modrow 1991a, S. 26. [5] Gespräch d. Vf. mit Wolfgang Herger, 19. 9. 1995. [6] Gerhard Schürer, 10. ZK-Tagung, 10. 11. 1989 (SAPMO-BArch, ZPASED, TD 738, bzw. IV 2 / 1 / 709, Bl. 7). [7] Vgl. Werner Jarowinsky, 10. ZK-Tagung, 10. 11. 1989 (SAPMO-BArch, ZPA-SED, TD 738, bzw. IV 2 / 1 / 709, Bl. 28 f.). [8] Ebd., S. 27. [9] Siehe dazu weiter unten. [10] Egon Krenz, 10. ZK-Tagung, 10. 11. 1989 (SAPMO-BArch, ZPA-SED, TD 738, bzw. IV 2 / 1 / 709, Bl. 32 f.). [11] „Schritte zur Erneuerung – Aktionsprogramm der SED", in: Neues Deutschland, 11. / 12. 11. 1989. [12] Egon Krenz, 10. ZK-Tagung, 10. 11. 1989 (SAPMO-BArch, ZPA-SED, TD 738, bzw. IV 2 / 1 / 709, Bl. 120). [13] Ebd., Bl. 121. [14] Ebd., Bl. 123. [15] Ebd., Bl. 124. [16] Vgl. SAPMO-BArch, ZPA-SED, IV 2 / 1 / 711, Bl. 130 ff. [17] Vgl. Stenografisches Protokoll der 10. Tagung des Zentralkomitees (SAPMO-BArch, ZPA-SED, IV 2 / 1 / 711, Bl. 137). [18] Nach Angaben von Hans Modrow wurden in dem zusammengerufenen Kreis die politische Solidarität miteinander und die gemeinsame Verantwortung besprochen, um die entstandene Lage gemeinsam politisch zu beherrschen. Weder Krenz noch Keßler hätten über die Alarmierung von Truppenteilen der NVA informiert. Selbst im „Nachgang" seien solche Details nicht besprochen worden (Gespräch d. Vf. mit Hans Modrow, 4. 1. 1995).
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