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Hans-Hermann Hertle, 12. November 1989: Neutralität der Alliierten

Hans-Hermann Hertle, 12. November 1989: Neutralität der Alliierten

Hans-Hermann Hertle
Chronik des Mauerfalls
Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989

Ch. Links Verlag, Berlin 1999

Bei diesem Stand der Dinge betrachteten es die sowjetischen Streitkräfte in der DDR einzig als ihre Aufgabe, die westlichen Alliierten in Berlin zur Neutralität aufzufordern. Auf Bitten von Keßler wandte sich der Stab der Westgruppe am Morgen des 12. November um 9.15 Uhr telefonisch über die bei seinem Oberkommandierenden akkreditierten Militärverbindungsmissionen mit dem Aufruf an die Oberkommandos der amerikanischen, britischen und französischen Streitkräfte in Deutschland, „sich aus den Ereignissen herauszuhalten". [1] Auf einer Zusammenkunft des Stabschefs der Westgruppe mit den Chefs der akkreditierten ausländischen Militärverbindungsmissionen am gleichen Tag um 13.30 Uhr in Potsdam äußerte die sowjetische Seite den Wunsch, daß die Oberkommandos der West-Alliierten „die von der DDR-Regierung getroffenen Maßnahmen verständnisvoll als Akt eines souveränen Staates betrachten mögen, sich jeglicher Einmischung in diese Ereignisse enthalten und die erforderlichen Schritte unternehmen werden zur Wahrung der öffentlichen Ordnung in ihren Zuständigkeitsbereichen, um etwaigen Störungen der Ordnung und Mißverständnissen vorzubeugen, die die Situation in der DDR ebenso wie in der BRD und Berlin (West) komplizieren könnten". [2]

Wie Generalleutnant Fursin, der Chef des Stabes der Westgruppe, Streletz mitteilte, habe der Chef der britischen Mission daraufhin erklärt, daß die britischen Armeeangehörigen angewiesen seien, sich aus den Ereignissen völlig herauszuhalten. Der Chef der amerikanischen Mission habe mitgeteilt, daß die US-Truppen ihrer normalen Arbeit nachgingen, Vertreter des US-Oberkommandos jedoch mit Amtspersonen in Berlin und der Bundesrepublik zusammenwirkten, „um jene bei der Lösung auftretender Fragen erforderlichenfalls zu unterstützen". Der Chef der französischen Mission habe sich der Haltung des US-Oberkommandos angeschlossen. [3]

Der US-Botschafter in Bonn, Vernon Walters, versicherte dem sowjetischen Botschafter am gleichen Tag, daß die Westmächte „ihre Verantwortung in den 'Berliner Angelegenheiten' sehr ernst" nähmen. Sie seien bestrebt, „die Entwicklung unter Kontrolle zu halten und keinerlei Exzesse oder Unruhen im Zusammenhang mit der Öffnung der Grenze 'in Berlin' zuzulassen. Dabei fänden sie volles Verständnis auch des Senats und der Polizei von Westberlin. " Die Vereinigten Staaten, so Walters, mäßen den Beziehungen zur UdSSR gerade im Vorfeld des Gipfeltreffens auf Malta „gewaltige Bedeutung" bei und „wollten nichts tun, was das große und heldenhafte Volk der Sowjetunion beunruhigen oder beleidigen könnte". Kotschemassow dankte Walters „für die positive Reaktion der amerikanischen Administration in Berlin (West) auf das Ersuchen der sowjetischen Botschaft und die operativen Maßnahmen zur Gewährleistung der Ordnung an der Grenze". Die Aufrechterhaltung der Ordnung sei besonders im Anfangsstadium wichtig, „denn im weiteren Verlauf wird sich die Situation zweifellos beruhigen". Er vereinbarte mit dem amerikanischen Botschafter, die operativen Kontakte in diesen Fragen aufrechtzuerhalten, und bat um Zurückhaltung, um die notwendigen Veränderungen in der DDR ohne Komplikationen durchführen zu können. Die Sowjetunion trete „für die Existenz zweier gleichberechtigter demokratischer deutscher Staaten ein, deren Beziehungen sich auf allen Gebieten erfolgreich" entwickelten. Walters wiederum versicherte, die USA seien sich bewußt, „daß Fortschritt in diesen Fragen ohne entsprechende Berücksichtigung der Interessen der UdSSR und ihrer Verbündeten unmöglich sei". [4]

Als Verteidigungsminister Keßler am 12. November nach den aktuellen Einsatzbefehlen für die Grenztruppen gefragt wurde, antwortete er: "Der konkrete Befehl an die Grenztruppen, Soldaten, Unteroffiziere, Fähnriche und Offiziere lautet: Erstens, alles zu tun und mitzuhelfen, daß der nunmehr eingeleitete Reiseverkehr ordentlich und reibungslos verläuft. Zweitens, alles in ihren Kräften Stehende zu tun, damit die allgemein anerkannte, fixierte Staatsgrenze von niemandem verletzt wird und daß die für diesen Zweck eingerichteten Grenzanlagen von niemandem zerstört werden dürfen. Und das alles ohne Gebrauch oder Einsatz von Schußwaffen." [5]

Die Anpassung an die Gegebenheiten kam für Keßler zu spät. Am 14. November wurde er vom Kollegium seines Ministeriums zum Rücktritt als Verteidigungsminister veranlaßt. An einen geordneten Reiseverkehr, wie ihn sich nicht nur die Grenztruppen wünschten, war freilich nicht mehr zu denken. Rund eine Million DDR-Bürger brachen am Wochenende des 11. und 12. November zu einer Fahrt in die Bundesrepublik auf. In West-Berlin folgte auf den Ansturm von etwa eineinhalb Millionen Besuchern am Samstag, dem 11. November, eine zweite Flut von einer Million Besuchern am Sonntag. An beiden Tagen war an Kontrollen kaum zu denken; den Paßkontrolleuren blieb während der meisten Zeit nichts anderes übrig, als sämtliche Abfertigungshandlungen einzustellen und die Tore und Schranken der Übergänge weit zu öffnen. Der Damm war gebrochen, und auch in den folgenden Tagen und Wochen wurden Staatssicherheit und Militärs nicht mehr Herr der Lage an der Grenze. Der Vorschlag des Chefs der Grenztruppen an das MfS, „in enger Zusammenarbeit mit den Kreis- und Bezirkseinsatzleitungen" die Öffnung weiterer Grenzübergangsstellen nach Möglichkeit zu verhindern, ließ sich nicht realisieren. [6] In Berlin schlugen sich Anwohner kurzerhand eigene Durchlässe in die Mauer; an der Grenze zur Bundesrepublik mußten zahlreiche zusätzliche Übergänge aufgrund des massiven Drucks der Bevölkerung eingerichtet werden. Nicht selten verständigten sich die Bürgermeister benachbarter Grenzortschaften in direktem Kontakt auf die Öffnung von Übergängen und stellten darüber an allen staatlichen Stellen vorbei Einverständnis mit den örtlichen Kommandeuren der Grenztruppen her. Bis zum 18. November wurden auf die eine oder andere Weise 38 Übergänge neu eröffnet, ohne daß MfS und Grenztruppen ein „durchgängiges bzw. wirksames Kontrollsystem" gewährleisten konnten. [7] Die staatlichen Organe hatten mit der Kontrolle an der Grenze die Verfügungsgewalt über die Bürger insgesamt verloren.

Der Fall der Mauer und der Verzicht der Sowjetunion, sie mit militärischer Gewalt wieder zu errichten, entzogen der DDR die Grundvoraussetzungen ihrer Existenz. Der SED-Staat löste sich auf.

Quelle: Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Ch. Links Verlag, Berlin 1999.
[1] Fernschreiben des Chefs des Stabes der Westgruppe der Streitkräfte der UdSSR, Generalleutnant W. Fursin, an den Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigung der DDR und Chef des Hauptstabes der Nationalen Volksarmee, Generaloberst F. Streletz, 12. 11. 1989 (Abschrift), S. 1 (BArch / P, MZA Strausberg AZN 32666, Bl. 241 ff.). [2] Ebd. [3] Vgl. ebd., S. 2 f. [4] Information über ein Gespräch des Botschafters der UdSSR in der DDR, Wjatscheslaw Kotschemassow, mit dem Botschafter der USA in der BRD, Vernon Walters, am 12. 11. 1989; 15. 11. 1989, 4 Ex. (SAPMO-BArch, ZPA-SED, IV 2 / 2.039 / 319, Bl. 26 – 33). [5] Heinz Keßler am 12. 11. 1989, 13.00 Uhr, in der „Aktuellen Kamera" des DDR-Fernsehens, zit. nach: RIAS-Monitor-Dienst, Freitag – Sonntag,10. – 12. 11. 1989, S. 59. [6] Fernschreiben von Baumgarten an Neiber, 12. 11. 1989 (BStU, ZA, MfS-Arbeitsbereich Neiber 509, Bl. 49). [7] Als symptomatisch für diese Tendenz kann gelten: AfNS Bezirksamt Suhl / Leiter, Information über Auswirkungen der neuen Reiseregelungen auf die Lage an der Staatsgrenze im Bezirk Suhl, Suhl, 28. 11. 1989 (BStU, ZA, MfS-Arbeitsbereich Neiber 875, Bl. 85).
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