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RIAS-Ansprache von Bundesminister Ernst Lemmer, 26. August 1961

RIAS-Ansprache von Bundesminister Ernst Lemmer, 26. August 1961

BULLETIN DES PRESSE- UND INFORMATIONSAMTES DER BUNDESREGIERUNG

Bonn, den 30. August 1961
Nr. 161/S. 1545
Z 1988 B

Recht stärker als Unrecht


Nachgiebigkeit und Unterwerfung würden der geschichtliche Verzicht auf die Wahrnehmung
des Selbstbestimmungsrechts aller Deutschen bedeuten

    Der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Ernst Lemmer, hielt am 26.August 1961 über den Sender RIAS folgende Ansprache an die Bevölkerung von Mitteldeutschland:
Wenn ich heute abend hier in West-Berlin das Wort ergreife, um mich ganz besonders an Sie, meine Landsleute im unfreien Teil unserer deutschen Heimat, zu wenden, so tue ich das auf den ausdrücklichen Wunsch des Herrn Bundeskanzlers, der mich bat, angesichts der zunehmenden Verschärfung der Lage um Berlin, alle Wahlkundgebungen der nächsten Tage abzusagen, um in den Stunden der Bedrohung dieser Stadt von hier aus, meinem Arbeitssitz in West-Berlin, meine Amtsgeschäfte wahrnehmen zu können.

Sicher werden Sie sich seit den Geschehnissen des 13. August und der vergangenen Tage zu Freunden oder im engsten Familienkreis dahingehend geäußert haben, daß es leicht sei, vom sicheren Hort aus, vom Boden der Freiheit an die Landsleute in der Zone Worte des Trostes und der Zuversicht zu richten. Ich bin mir der Schwere dieser Aufgabe voll bewußt.

In diesen Stunden der Herausforderung und der drohenden Haltung der sowjetzonalen Machthaber gibt es keinen Platz für Wankelmut und Zögern. Wir alle sind aufgerufen — angesichts des Stacheldrahts, der zugemauerten Kirchenportale und der auf uns gerichteten kommunistischen Panzerkanonen am Brandenburger Tor —, mit unserem persönlichen Einsatz vor der ganzen Weltöffentlichkeit zu bekunden, daß das deutsche Volk nicht gewillt ist, die Freiheit dieser Stadt aufzugeben, nur weil die Kommunisten rücksichtslos gegen den Willen des deutschen Volkes und unter Mißachtung getroffener Vereinbarungen den sowjetischen Herrschaftsbereich im Herzen Europas konsolidieren wollen. Dagegen haben die Berliner im Namen und stellvertretend für die Bevölkerung von Ost-Berlin und der Zone demonstriert. Sie wissen, daß Nachgiebigkeit und Unterwerfung den geschichtlichen Verzicht auf die staatliche Wiedervereinigung unseres Volkes, auf die Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts aller Deutschen bedeuten würden. Es ist für mich eine Selbstverständlichkeit diesen Standpunkt der Berliner einzunehmen.

Auch die am Freitag veröffentlichte Note der sowjetischen Regierung, die aus mir einen, wie es so schön heißt, „Transportminister für Provokateure, Revanchisten, Extremisten, Wühlagenten, Spione und Diversanten jeder Art" macht, kann mich nicht daran hindern. Die gegen die Bundesregierung und besonders gegen mich aufgestellten Behauptungen sind zu absurd, als daß ich sie auch nur im Vorbeigehen vor meinen Hörern zu widerlegen brauche. Sie wissen, daß Provokateure oder Revanchisten automatisch alle genannt werden, die nicht bereit sind, sich dem Anspruch der Kommunisten zu unterwerfen. Den Ernst der Lage will ich nicht unterschätzen. Ich halte es da mit Churchill, der an einem besonders kritischen Zeitpunkt des zweiten Weltkriegs seinen Mitbürgern sagte, daß Freiheit und Unabhängigkeit nur mit großen Opfern und manchen Tränen verteidigt werden könnten. Nun haben wir es jetzt Gott sei dank nicht mit einem Schießkrieg zu tun, auch in Zukunft nicht; was wir erleben ist die psychologische Kriegführung Moskaus, um 16 Millionen unter seiner Herrschaft zu entmutigen und die Kräfte im freien Teil Deutschlands und der Welt zu gefährlichen Kompromissen aufzuweichen. Sie werden damit keinen Erfolg haben.

Die Haltung der mit der Bundesrepublik verbündeten Völker darf mit Dank für uns alle als eine Ermutigung gewürdigt werden. Moskau hat mit dem Rechtsbruch vom 13. August eine neue Phase des Kalten Krieges eröffnen wollen; dadurch sind Wachsamkeit und Entschlossenheit, entgegen den Absichten der Urheber der traurigen Stacheldraht- und Betonmauerlinie mitten durch eine Millionenstadt, um so größer geworden. Auch was inzwischen weiter erfolgte, konnte uns nicht einschüchtern. Die Aufstellung einer Formation bewaffneter Jugendlicher, das „FDJ-Regiment Berlin", hat uns wirklich nicht erschüttert. Aber einer friedlichen Lösung der Probleme, wie wir sie unentwegt und aufrichtig wünschen, ist dieser makabre Vorgang gewiß abträglicher als ein Minister, der an seiner gesamtdeutschen Aufgabe festhält und in Berlin als Bürger dieser Stadt tätig ist. Die Bewaffnung Jugendlicher muß ich als das bezeichnen, was sie ist, nämlich eine unverantwortliche gefährliche Demonstration der Gewalt.

Meine Landsleute in der Zone, Sie alle wissen, wie ich mich mit meinem Vorgänger, dem verstorbenen ersten Minister für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, der lange Zeit wie auch ich in Ihrer Mitte wirken konnte, verbunden fühle. Sie haben mir in zahllosen Briefen Ihr Vertrauen ausgedrückt zu meinem Bemühen, die Probleme unseres geteilten Vaterlands in den Herzen aller wachzuhalten mit dem Ziel der unerschütterlichen Forderung nach Selbstbestimmung und Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit. Mit aller Deutlichkeit möchte ich zum Ausdruck bringen, daß die verantwortungsbewußte Reaktion des Westens auf den Rechtsbruch des Ostens nicht als Schwäche ausgelegt werden darf.

Die kommunistische Propaganda will jetzt Mißtrauen verbreiten. Damit verbindet sie den Versuch, wahre Schauermärchen über die Absichten der Bundesregierung, des Senats von Berlin und über meine ministerielle Tätigkeit in dieser Stadt, in der ich meinen Wohnsitz beibehalten habe, zu verbreiten. Ich habe es nicht für möglich gehalten, daß die Regierung einer Weltmacht in ihrer in dieser Woche veröffentlichten Note an die Regierungen der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs Verleumdungen ausspricht, die sie selbst nicht für zutreffend halten kann. Wenn sie trotzdem in einer amtlichen Note ausgesprochen werden, dann kann dadurch nur der Verleumder, aber nicht der Verleumdete getroffen werden. Es heißt in dieser Note, daß der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen in West-Berlin seine Residenz aufgeschlagen habe, um Provokationen diverser Art vorzubereiten und die Wühltätigkeit gegen die sogenannte DDR und andere sozialistische Länder zu leiten. Dazu brauche ich meinen Landsleuten in der Zone, die von der kommunistischen Agententätigkeit mehr wissen als wir, nichts zu sagen.

Herr Ulbricht steht selbstverständlich hinter seinen Moskauer Herren nicht zurück. In einer Wahlkundgebung, wie er eine merkwürdige Veranstaltung in Ost-Berlin nennt, verbreitete er das Märchen, der Bundeskanzler und seine Leute, wie er sich ausdrückt, die Herren Strauß, Lemmer und Brandt, hätten einen militärischen Angriff auf seine „DDR" geplant. Mit einer unübertrefflichen Einbildungskraft meint er nun, daß er mit seinem Stacheldraht und seinen Betonmauern dem am 13. August zuvorgekommen wäre. Der große dänische Märchenerzähler Andersen hatte nicht mehr Phantasie als Herr Ulbricht, aber was er erzählte war schöner. Die Öffentlichkeit in der ganzen Welt, auch in den Ostblockstaaten, auch in der Zone, kann er damit nicht täuschen. Wo die Aggressoren, Militaristen und Imperialisten in Wirklichkeit sitzen, das ist jetzt klarer geworden als zuvor.

Meinen Landsleuten in der Zone und in Ost-Berlin brauche ich nicht zu versichern, daß die Bundesregierung und die mit ihr verbündeten Mächte den Frieden wollen; aber wir sind nicht bereit, uns durch eine psychologische Kriegsführung matt setzen zu lassen, um dem militanten Kommunismus zu erlauben, noch mehr Menschen unter seine Gewalt zu bringen. Hier gibt es keine Möglichkeit zu einem Kompromiß. Indem wir fest auf unserem rechtlich begründeten Standpunkt beharren, halten wir trotz Stacheldraht und Wachtürmen das politische Tor für die deutsche Wiedervereinigung offen. Diese kann nur durch die Gewährung des Selbstbestimmungsrechts an alle Deutschen erreicht werden.

Auch meinen Landsleuten in der Zone wird eines Tages dieses Selbstbestimmungsrecht gewährt sein. Bis dahin darf sich niemand von uns entmutigen lassen. Immer wieder hat sich in der Geschichte der Völker Recht stärker erwiesen als Unrecht.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 160, 29.8.1961, S. 1538.
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