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Rundfunk- und Fernsehansprache von DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière, 2. Oktober 1990

Rundfunk- und Fernsehansprache von DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière, 2. Oktober 1990

Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin Nr. 118, 5.10.1990, S. 1226-1227.



Fernsehansprache des Ministerpräsidenten


Ministerpräsident Lothar de Maiziere hielt am Vorabend des Tages der Deutschen Einheit über Rundfunk und Fernsehen am 2. Oktober 1990 die nachstehende Ansprache:

Es ist ungewöhnlich, daß sich ein Staat freiwillig aus der Geschichte verabschiedet. Ebenso ungewöhnlich und widernatürlich war aber auch die Teilung unseres Landes.

In wenigen Stunden tritt die Deutsche Demokratische Republik der Bundesrepublik Deutschland bei. Wir Deutschen erreichen die Einheit in Freiheit.

Ich glaube, wir alle haben Grund, uns zu freuen und dankbar zu sein. Wir lassen ein System hinter uns, daß sich demokratisch nannte, ohne es zu sein. Seine Kainszeichen waren die Unfreiheit des Geistes und das verordnete Denken, Mauer und Stacheldraht, der Ruin der Wirtschaft und die Zerstörung der Umwelt, die ideologisch kalkulierte Gängelung und das geschürte Mißtrauen.

An die Stelle dieser Tyrannei sind Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenwürde getreten.

Unser Weg in die Freiheit war nicht gefahrlos und war nicht unumstritten. Wir danken denjenigen, die unbeirrt ihren Weg gingen und ihren demokratischen Willen furchtlos zum Ausdruck brachten. Da sie sich von der Angst befreit hatten, konnten sie auch die Freiheit erzwingen.

Wir wissen, daß wir diesen Weg nicht ohne das neue Denken in der Sowjetunion und ohne die Unterstützung unserer Nachbarn Im Osten hätten gehen können. Wir danken den heutigen Tag auch dem Verständnis der Vier Mächte und ihrer Verständigungsbereitschaft, die für die Deutsche Einheit Voraussetzung war.

Wir sind jetzt Bürger eines gemeinsamen deutschen Staates, und mit der Länderbildung, die sich in wenigen Tagen vollzieht, werden wir gleichzeitig wieder Bürger von Thüringen und Sachsen, von Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern sein.

Wir können uns wieder auf die Kräfte besinnen, die aus der Geschichte und den Traditionen dieser Länder herrühren. Das Diktat des Zentralismus mit seinen ortsfernen Entscheidungen und die Auszehrung des übrigen Landes finden endlich ihr Ende. Und, so will es der Einigungsvertrag, das geeinte Berlin wird Hauptstadt Deutschlands sein.

Mit der Einheit in Freiheit wird Wirklichkeit, was viele kaum mehr für möglich hielten. Die 40jährige Teilung unseres Landes ist überwunden, und das ganze Europa kann wieder zusammenfinden.

Die Geschichte der letzten vier Jahrzehnte ist trotz aller Widersprüche und Belastungen ein Teil unserer persönlichen Biographie, ein Stück unseres gewachsenen Ichs.

Sie hat uns geprägt, und sie hat fast allen große Anstrengungen abgefordert. Dies schuf auch ein Gefühl von Identität und bei denen, die bewußt hierblieben, eine Gemeinsamkeit, die zurückzulassen manchem schwerfallen wird. Wir wollen die Einheit, auch wenn nicht alle diesen Übergang heute mit leichtem Herzen erleben.

Ich weiß, daß nicht alle sorgenfrei in die Zukunft blicken. Die neue Währung, die Neuordnung der Wirtschaft und die Einführung der neuen politischen Strukturen bringen naturgemäß viele Schwierigkeiten mit sich.

Aber wir haben den großen Vorzug, einen starken Partner an unserer Seite zu wissen. Mit seiner Hilfe wird sich die Umstrukturierung der Wirtschaft schneller und günstiger vollziehen als in unseren Nachbarländern. Der Einigungsvertrag bietet uns für die Zukunft eine sichere Grundlage.

Wir treten den Weg unter hoffnungsvollen Vorzeichen an. Ich bin sicher, daß wir die großen Aufgaben, die vor uns liegen, gemeinsam bewältigen werden. Dies hängt vom tatkräftigen Einsatz eines jeden einzelnen ab.

Die Deutsche Einheit ist mit dem Beitritt nicht abgeschlossen. Sie ist und bleibt eine Gemeinschaftsaufgabe aller Deutschen. Sie ist nicht nur eine materielle Frage, sondern eine Frage des praktizierten Gemeinsinns. Die Einheit will nicht nur bezahlt, sondern auch mit den Herzen gewollt sein.

Zur Überwindung der Teilung gehört auch die Korrektur von Pauschalurteilen, auf beiden Seiten. Sie haben ihren Grund in der Unkenntnis voneinander und oftmals in mangelndem Einfühlungsvermögen. Wir wissen sehr wohl, was die Vergangenheit uns angetan hat. Wir wollen sie hinter uns lassen. Wir wollen die Vergangenheit nicht verdrängen, und wir haben sie ehrlich und verantwortungsvoll aufzuarbeiten. Aber sie darf nicht auch noch unsere Zukunft teilen.

Wir stehen am Beginn einer neuen Zeit. Wir haben allen Grund, mit Freude und Zuversicht in die Deutsche Einheit zu gehen. Unsere Probleme sind vergleichsweise gering, wenn man sich die Lebensumstände unserer Nachbarn in Osteuropa und die Ereignisse in der übrigen Welt vergegenwärtigt.

Knapp sechs Monate war ich Ministerpräsident der DDR. Dies war nicht immer einfach. Es waren Aufgaben zu lösen ohne Vorbild. Der Zuspruch, den ich erfahren durfte, und die Unterstützung, die mir von vielen Seiten zuteil wurde, haben vieles erleichtert. Ich möchte mich ausdrücklich auch für die Kritik bedanken, die ich erhielt.

Wir sind gemeinsam einen schwierigen Weg gegangen. Wir haben diese Wegstrecke geordnet und gesittet hinter uns gebracht. Nur durch den guten Willen aller ließ sich der friedliche Weg vom Herbst '89 fortsetzen.

In der Geschichte sind wir Deutschen so manchen Irrweg gegangen. Dies geschah oft in bewußter Konfrontation mit unseren Nachbarn. Es ist ein Glücksfall der Geschichte, daß wir heute die Einheit Deutschlands friedlich und im guten Einvernehmen mit unseren Partnern und Nachbarn vollenden können.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 118, 5.10.1990, S.1226-1227.
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