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Botschaft von Bundeskanzler Helmut Kohl an alle Regierungen der Welt, 3. Oktober 1990

Botschaft von Bundeskanzler Helmut Kohl an alle Regierungen der Welt, 3. Oktober 1990

Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin Nr 118, 5.10.1990, S. 1227-1228.



Botschaft von Bundeskanzler Helmut Kohl an alle Regierungen der Welt


    Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl richtete zum Tag Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 an alle Regierungen der Welt, mit denen das vereinte Deutschland diplomatische Beziehungen unterhält, folgende Botschaft:
Sehr geehrte/r (Amtstitel)

Mit dem heutigen Tage ist das deutsche Volk in Frieden und Freiheit wiedervereint. 45 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs, der von deutschem Boden ausging und unendliches Leid in Europa und in der Welt verursacht hat, endet die schmerzliche Trennung der Deutschen.

In Ausübung ihres Rechts auf freie Selbstbestimmung, im Einvernehmen mit ihren Nachbarn und auf der Grundlage des Vertrages über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland haben sich heute die Deutschen in einem Staat - der Bundesrepublik Deutschland - mit voller Souveränität in seinen inneren und äußeren Angelegenheiten vereint.

Im Namen des deutschen Volkes möchte ich allen danken, die sich für das Recht der Deutschen auf Selbstbestimmung eingesetzt und unseren Weg zur Einheit erleichtert haben. Im Bewußtsein der Kontinuität deutscher Geschichte wissen wir dies besonders zu würdigen.

I.



Unser Land will mit seiner wiedergewonnenen nationalen Einheit dem Frieden in der Welt dienen und die Einigung Europas voranbringen : Das ist der Auftrag des Grundgesetzes, unserer bewährten Verfassung, die auch für das vereinte Deutschland gilt.

Zugleich stehen wir zu den moralischen und rechtlichen Verpflichtungen, die sich aus der deutschen Geschichte ergeben.

Wir wissen, daß wir mit der Vereinigung auch größere Verantwortung in der Völkergemeinschaft insgesamt übernehmen. Unsere Außenpolitik bleibt deshalb ausgerichtet auf weltweite Partnerschaft, enge Zusammenarbeit und friedlichen Interessenausgleich.

Von deutschem Boden wird in Zukunft nur Frieden ausgehen. Wir sind uns bewußt, daß die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen Integrität und der Souveränität aller Staaten in Europa eine grundlegende Bedingung für den Frieden ist. Deshalb haben wir den endgültigen Charakter der Grenzen des vereinten Deutschland bestätigt, darunter der Grenze mit der Republik Polen. Wir werden in Zukunft keinerlei Gebietsansprüche gegen irgend jemand erheben.

Wir werden im Zuge der Herstellung der deutschen Einheit die völkerrechtlichen Verträge der Deutschen Demokratischen Republik unter den Gesichtspunkten des Vertrauensschutzes, der Interessenlage der beteiligten Staaten und der vertraglichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland sowie nach den Prinzipien einer freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Grundordnung und unter Beachtung der Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft mit den Vertragspartnern erörtern, um ihre Fortgeltung, Anpassung oder ihr Erlöschen zu regeln bzw. festzustellen.

II.



Die Einigung Deutschlands ist untrennbar verbunden mit der Europas. Mit der gleichen Beharrlichkeit, mit der wir unsere Einheit angestrebt haben, werden wir uns weiterhin entschlossen für die europäische Einheit einsetzen.

Wichtige Schritte liegen unmittelbar vor uns. Mit unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft wollen wir bis 1992 den Binnenmarkt vollenden. Wir schreiten entschlossen auf die Wirtschafts- und Währungsunion zu. Das geeinte Deutschland wird tatkräftig mithelfen, die politische Union zu bauen.

Die Europäische Gemeinschaft wird offen sein für enge Zusammenarbeit mit den anderen Staaten Europas. Insbesondere wollen wir dazu beitragen, für die Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas, die ihre Freiheit errungen und sich auf den Weg politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Reformen begeben haben, engere Bindungen mit der Europäischen Gemeinschaft zu entwickeln.

Wir sind der Überzeugung, daß die Europäer ihre Unabhängigkeit und die Menschen- und Freiheitsrechte ihrer Bürger gemeinsam am besten wahren und stärken können. Ein wichtiges Forum unserer Zusammenarbeit wird deshalb der Europarat sein und bleiben.

Wir bekennen uns zum Prozeß der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa als Hoffnung der Völker Europas und als Wegweiser zu seiner zukünftigen Einheit. Wir treten deshalb nachdrücklich für seine Intensivierung und Institutionalisierung ein.

III.



Die Wertegemeinschaft der freiheitlichen westlichen Demokratien und das Nordatlantische Verteidigungsbündnis haben in schwierigen Jahrzehnten auf unserem Kontinent Frieden und Freiheit bewahrt. Der Platz des vereinten Deutschland wird deshalb auch in Zukunft in diesem Bündnis sein.

Zugleich wollen wir gemeinsam mit unseren Verbündeten diese erfolgreiche Allianz entsprechend den Fortschritten im West-Ost-Verhältnis und den sich wandelnden Anforderungen der Zeit fortentwickeln und als Grundpfeiler einer neuen übergreifenden Sicherheitsarchitektur in Europa erhalten.

Wir setzen uns ein für eine Grundsatzerklärung der Mitglieder der beiden Bündnisse in Europa, mit der sie ihre Verpflichtung zum Gewaltverzicht bekräftigen und eine neue Partnerschaft beim Aufbau einer dauerhaften und gerechten europäischen Friedensordnung begründen.

Abrüstung und Rüstungskontrolle bleiben zentrale Elemente unserer Sicherheitspolitik.

Im Zusammenhang mit der Herstellung der deutschen Einheit haben wir unseren Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen bekräftigt. Das vereinte Deutschland bleibt dem Nichtverbreitungsvertrag verpflichtet.

Mit unserer Bereitschaft, die Streitkräfte des vereinten Deutschland auf 370.000 Soldaten zu vermindern, leisten wir zugleich einen Beitrag zum Erfolg der Verhandlungen über die Reduzierung konventioneller Streitkräfte in Europa. Wir gehen davon aus, daß in Folgeverhandlungen auch die anderen Verhandlungsteilnehmer ihren Beitrag zur Festigung von Sicherheit und Stabilität in Europa, einschließlich Maßnahmen zur Begrenzung der Personalstärken, leisten werden.

Auch weltweit werden wir uns für Abrüstungsvereinbarungen einsetzen, die zu einer Erhöhung von Stabilität und Sicherheit beitragen. Das Prinzip, wonach sich der Umfang der Streitkräfte ausschließlich an den Bedürfnissen der Selbstverteidigung ausrichten soll, muß weltweit Geltung erlangen.

Ein Abkommen über die Reduzierung der strategischen Nuklearwaffen der USA und der Sowjetunion, Verhandlungen über die Verminderung der amerikanischen und sowjetischen nuklearen Kurzstreckenraketen und nicht zuletzt das weltweite Verbot chemischer Waffen haben an Dringlichkeit nichts eingebüßt.

IV.



Die Länder Afrikas, Asiens und Amerikas können auch künftig auf die Solidarität des geeinten Deutschland zählen. Was wir in die deutsche Einheit investieren, geht nicht zu ihren Lasten.

Im Gegenteil : Die Überwindung der Konfrontation in Europa macht geistige Kräfte und materielle Ressourcen frei für die zentralen Friedensaufgaben unserer Zeit: Für den Kampf gegen Armut und Unterentwicklung und für den Erhalt unserer natürlichen Umwelt.

Terrorismus und Drogenmißbrauch sind Herausforderungen an alle Staaten der Welt und verlangen gemeinsames Handeln. Wir werden unseren Teil der Verantwortung tragen.

V.



Die Überwindung der Ost-West-Konfrontation hat auch neue Wege eröffnet, die hohen Ziele der Charta der Vereinten Nationen umfassend zu verwirklichen. Zugleich haben die Ereignisse der letzten Wochen gezeigt, wie gefährdet der Friede in der Welt bleibt, wenn die Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen mißachtet werden.

Die Bundesrepublik Deutschland will dazu beitragen, daß die Vereinten Nationen ihre unverzichtbare Rolle beim Aufbau einer friedlichen Welt und bei der Lösung der globalen Herausforderungen ausfüllen können.

Nach Wiedererlangen der deutschen Einheit in voller Souveränität ist die Bundesrepublik Deutschland bereit, sich künftig an Maßnahmen der Vereinten Nationen zur Wahrung und zur Wiederherstellung des Friedens auch durch den Einsatz ihrer Streitkräfte zu beteiligen. Wir werden hierfür die erforderlichen innerstaatlichen Voraussetzungen schaffen.

VI.



Am Beginn des letzten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts sehen wir neue Möglichkeiten für eine Welt, die ihre Probleme durch Ausgleich und Verständigung löst und den Prinzipien des Völkerrechts verpflichtet bleibt. Unser Land steht in einer Reihe mit allen, die sich dem Frieden, der Achtung der Menschen- und Freiheitsrechte und dem Wohlergehen der Menschen verpflichtet fühlen.

Nachdem die Bürde der Teilung von uns Deutschen genommen ist, sind wir bereit, mit neuer Kraft und in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit allen Ländern und Völkern, die diese hohen Ziele teilen, eine gemeinsame friedliche Zukunft zu gestalten.

Genehmigen Sie, sehr geehrte/r (Amtstitel),
die Versicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung.

Helmut Kohl
Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 118, 5.10.1990, S.1227-1228.
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