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Schreiben von Alexander Schalck an Egon Krenz, 6.11.1989

Schreiben von Alexander Schalck an Egon Krenz, 6. November 1989

Schreiben von Alexander Schalck an Egon Krenz, 6.11.1989,

[1]

mit der Anlage: Vermerk über ein informelles Gespräch des Genossen Alexander Schalck mit dem Bundesminister und Chef des Bundeskanzleramtes der BRD, Rudolf Seiters, und dem Mitglied des Vorstandes der CDU, Wolfgang Schäuble, am 06.11.1989

[2]

Alexander Schalck

Berlin, 06. November 1989

Generalsekretär
des Zentralkomitees der SED
Genossen Egon Krenz


Lieber Genosse Krenz!

Beiliegend übermittle ich den
Vermerk über die geführten Gespräche mit Bundesminister Seiters und dem Mitglied des CDU-Vorstandes Schäuble.

Seiters wird im Verlaufe des heutigen Abends Gelegenheit haben, gemeinsam mit Schäuble den Bundeskanzler zu informieren. Sollten sich daraus bereits erste verwertbare Informationen ergeben, würde er mich am 07.11.1989 telefonisch informieren.

Ich bitte um Kenntnisnahme und Festlegung für das weitere Vorgehen.

Aufgrund der mir gegenwärtig übertragenen Vollmacht für die informelle Verhandlungsführung mit der Regierung der BRD bitte ich Dich herzlich um Zustimmung, daß ich in dieser Zeit von meiner Seite aus an keiner öffentlichen Diskussion einschließlich des Fernsehens teilnehme, um zu verhindern, daß durch mich informell diskutierte Varianten durch mögliche Unachtsamkeiten in die Öffentlichkeit kommen. Sollten diese Verhandlungen abgeschlossen sein, stehe ich selbstverständlich, vorausgesetzt Deiner Zustimmung, für die öffentlichen Medien weiter zur Verfügung.

Mit sozialistischem Gruß
(Unterschrift)


Anlage

Berlin, den 06.11.1989

Vermerk über ein informelles Gespräch des Genossen Alexander Schalck mit dem Bundesminister und Chef des Bundeskanzleramtes der BRD, Rudolf Seiters, und dem Mitglied des Vorstandes der CDU, Wolfgang Schäuble, am 06.11.1989

Anknüpfend an das am 24.10.1989 geführte informelle Gespräch habe ich nochmals einleitend Grundpositionen der DDR zur weiteren politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Regierung der BRD und dem Senat von Berlin (West) dargelegt. Ich habe insbesondere darauf hingewiesen, daß seitens der DDR Bereitschaft besteht, in Durchführung der übernommenen Verpflichtungen im Rahmen des KSZE-Prozesses die gesellschaftliche Entwicklung zu erneuern und eine konstruktive, dem Sozialismus und der DDR dienende Zusammenarbeit der SED mit den anderen demokratischen Parteien durchzuführen.

Im Rahmen der beschlossenen Ausarbeitung von Gesetzen zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit wird das Strafgesetzbuch der DDR im Hinblick auf die Erweiterung der persönlichen Freiheiten, der Meinungsäußerung und anderer Fragen den neuen Erfordernissen angepaßt.

Zur Sicherung des Reise- und Besucherverkehrs ist die DDR bereit, zwischen der Hauptstadt der DDR und Berlin (West) großzügige Regelungen in bezug auf die Neueröffnung von Grenzübergangsstellen zu treffen.

Die Durchführung dieser Maßnahmen ist mit großen finanziellen und materiellen Aufwendungen verbunden.

Es wird davon ausgegangen, daß diese Kosten zu einem hohen Maße von der BRD-Seite getragen werden.

Es wurde des weiteren darauf hingewiesen, daß die DDR bereit ist, die wirtschaftliche Zusammenarbeit einschließlich der Einführung neuer Formen, wie z.B. Joint Ventures und Kapitalbeteiligungen in ausgewählten Zweigen und Bereichen zu entwickeln. Dabei wird davon ausgegangen, daß, soweit es sich um mittelständische und Kleinbetriebe handelt, die Bundesregierung notwendige Kreditbürgschaften übernimmt.

Die DDR wäre bereit, in den nächsten zwei Jahren objektgebunden langfristige Kredite, die aus den neu zu schaffenden Kapazitäten zu refinanzieren sind, bis zur Höhe von 10 Mrd. VE aufzunehmen. Dabei wird davon ausgegangen, daß die Rückzahlung der Kredite erst nach Beginn der vollen Produktion beginnt und die Kredite über eine Laufzeit von mindestens 10 Jahren auszureichen sind.

Des weiteren wird seitens der DDR im Zusammenhang mit der neuen Stufe einer viele Gebiete umfassenden Zusammenarbeit das Erfordernis gesehen, die Bereitstellung zusätzlicher Kreditlinien in freien Devisen, die beginnend im Jahre 1991 jährlich 2 - 3 Mrd. DM betragen könnten, zu erörtern.

Im Hinblick auf den vorgesehenen Besuch von Bundesminister Seiters am 30.11.1989 in der DDR und seine offiziellen Gespräche mit dem Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Egon Krenz, sowie mit Außenminister Oskar Fischer, wurde Seiters darüber informiert, daß die DDR bereit ist, in einem „Verständigungsprotokoll" verbindliche Absprachen über den Ausbau der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen, weitere Verhandlungen zu Fragen des Umweltschutzes, Verhandlungen über die weitere Gestaltung der Post- und Fernmeldebeziehungen sowie über weitere Vorhaben zu treffen.

Als aktueller dringlicher Schwerpunkt wurde Seiters gebeten, Bezug nehmend auf die am 24.10.1989 geführten Gespräche, den Standpunkt der Bundesregierung zu den Möglichkeiten einer Beteiligung an den zusätzlichen Aufwendungen der DDR für den vorgesehenen großzügig erweiterten Reise- und Besucherverkehr auf der Grundlage eines neuen Reisegesetzes darzulegen.

Seiters bedankte sich für die Darlegungen und stellte fest, daß diese für die Bundesregierung und die zu treffenden Entscheidungen von Gewicht sind.

Zu den von mir geäußerten Vorstellungen, den reisenden Bürgern der DDR die Möglichkeit zu geben, einmal jährlich Reisedevisen in Höhe von 300 DM zu einem Umtauschkurs von 1 DM = 4,40 M zu erwerben, wurden von Seiters folgende Überlegungen dargelegt:
  • Unter der Voraussetzung, daß der Mindestumtausch aufgehoben wird, könnte ein valutaseitiger Reisezahlungsfonds mit Mitteln der BRD eingerichtet werden (bei 12,5 Mio. Reisenden wäre das eine Größenordnung von rd. 3,8 Mrd. DM).
    Gleichzeitig entfällt das bisher von der BRD gezahlte Begrüßungsgeld von 100 DM jährlich pro Person.
    Die bisher von der DDR eingenommenen Beträge des Mindestumtausches (rd. 400 Mio. DM) wären mit der Bildung des zentralen Reisefonds abgegolten.
  • Der von den Bürgern der DDR für die Reisedevisen umgetauschte Markbetrag (bei 12,5 Mio. Reisenden rd. 16,7 Mrd. M jährlich) wird als zweckgebundener Fonds vorgesehen, über dessen Verwendung die BRD mitbestimmt.
    Nach den Vorstellungen der BRD sollte dieser Fonds für die Errichtung von Grenzübergangsstellen, Umweltschutzmaßnahmen oder für andere gemeinsam interessierende Projekte, z.B. auf dem Gebiet des Verkehrswesens und des Post- und Fernmeldewesens, eingesetzt werden.
Die BRD geht des weiteren davon aus, daß die notwendige Anzahl auszubauender Grenzübergangsstellen zwischen der Hauptstadt der DDR und Berlin (West) sowie zwischen der DDR und der BRD errichtet und geöffnet wird. Dabei sind teilweise Provisorien vorzusehen, die dann schrittweise weiter auszubauen sind.

Damit ist eine ordnungsgemäße Grenzabfertigung des steigenden Reise-, Besucher- und Transitverkehrs zu gewährleisten.

Die Finanzierung muß nach Vorstellungen der BRD aus den Markbeträgen des umgetauschten Reisefonds erfolgen.

Über Fragen der Kosten im Eisenbahnverkehr könne eventuell weiter nachgedacht werden. Seiters erklärte offen, daß zur innenpolitischen Durchsetzung und Begründung dieser vorgeschlagenen Grundsätze seitens der DDR einigen politischen Erfordernissen Rechnung getragen werden müßte.

Er nannte in diesem Zusammenhang die Möglichkeit der Wiedereinreise von Bürgern, die die DDR gesetzlich oder ungesetzlich verlassen haben, so daß alle DDR-Bürger, bis auf Einzelfälle, die zu begründen wären, zu Besuchszwecken wieder in die DDR einreisen können.

Er machte keinen Hehl daraus, daß es nach der „Sonnabend-Veranstaltung" in Berlin große Zurückhaltung seitens der verantwortlichen Politiker der Regierungskoalition gäbe.

Seiters machte des weiteren deutlich, daß eine endgültige Antwort heute unter keinen Umständen gegeben werden kann und seine Vorstellungen erste Konturen sind, die er freibleibend äußerte. Durch Schäuble wurde offensichtlich in enger Abstimmung mit dem Bundeskanzler dargestellt, daß viel davon abhänge, daß in der Rede des Generalsekretärs auf der 10. Tagung des ZK der SED die Glaubwürdigkeit des Kurses der Wende und Erneuerung sowie der angekündigten Reformen deutlich werden, und daß für die Durchführung glaubwürdige und auch neue Personen die Verantwortung übernehmen.

Ein Grundproblem sei dabei Artikel 1 der Verfassung der DDR, der die führende Rolle der marxistisch-leninistischen Partei beinhaltet.

Schäuble empfahl dringend, deutlich zu machen, daß die SED bereit ist, um einen friedlichen Übergang zu einer von allen politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Organisationen getragenen Entwicklung zu ermöglichen, die Verfassung der DDR entsprechend dem heutigen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung und in Durchführung der übernommenen KSZE- Verpflichtungen zu ändern. Diese Verfassungsänderung sollte beinhalten, die führende Rolle der SED durch eine konstruktive, dem Sozialismus und der DDR dienende Zusammenarbeit im Konsens aller demokratischen Kräfte neu auszugestalten.

Dabei empfahl Schäuble, Kirchenvertretern in der DDR einen gebührenden Platz einzuräumen. Hinsichtlich der nach dem 13.08.1961 zum Schutz der DDR errichteten Staatsgrenze gegenüber Berlin (West) vertrat auch Schäuble die Auffassung, in Übereinstimmung mit dem KSZE-Prozeß diese Grenze durch die Einrichtung neuer Grenzübergangsstellen durchlässiger zu machen.

Schäuble verdeutlichte nochmals, daß bei allen Wirtschafts- und Finanzentscheidungen die BRD-Regierung immer davon ausgeht, daß die DDR ihre Subventionen entscheidend abbaut.

Schäuble brachte zum Ausdruck, daß bei vielen Politikern der BRD Unverständnis über die zurückhaltende Informationspolitik zu den Vorkommnissen am 7./8. Oktober 1989 besteht. Die DDR wäre nach seiner Auffassung im Interesse ihrer Glaubwürdigkeit gut beraten, wenn sie die Schreiben von Alexander Schalck an Egon Krenz, 6. November 1989 direkt verantwortlichen Polizei- und Sicherheitsbeamten benennen und die veranlaßten Maßnahmen bekanntgeben würde.

Auch in der BRD komme es manchmal zu Übergriffen, die geahndet werden.

Ansonsten wird dieses Thema von bestimmten Kräften immer wieder neu hochgespielt.

Zu den anderen Fragen der Entwicklung der Zusammenarbeit, insbesondere auf wirtschaftlichem Gebiet, sowie zu den Kreditfragen seien noch weitere Überlegungen durch die Bundesregierung erforderlich. Derzeitig sei man noch nicht in der Lage, konkrete Vorschläge für verbindlich zu treffende Absprachen zu unterbreiten.

Auch hier wurde deutlich, daß die BRD-Regierung eine abwartende Haltung einnimmt und zumindest die Ergebnisse der 10. Tagung abwarten will.

Schäuble empfahl abschließend nochmals dringend, daß der Generalsekretär Egon Krenz in seiner Rede die geäußerten Gedanken aufgreift. Anderenfalls wäre Bundeskanzler Kohl nicht in der Lage, vor dem Bundestag finanzielle Hilfen aus den Steuergeldern der BRD zu begründen.

Quelle: Privatarchiv, abgedruckt in: Hans-Hermann Hertle, Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates, 2. Aufl., Opladen 1996, S. 483-486.
[1] Handschriftlicher Vermerk von Egon Krenz auf dem Anschreiben: „Kr. 7.11.89.“ [2] Der Vermerk trägt auf der ersten Seite die handschriftliche Notiz von Egon Krenz: „Gen. Schalck. 1) Dank! 2) Erbitte zusammenhängendes Material für Gespräche mit Seiters. 12.11./Kr.“
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