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Ulrich Steinhauer: geboren am 13. März 1956, erschossen am 4. November 1980 im Dienst als Grenzsoldat an der Berliner Mauer, Aufnahmedatum unbekannt
Ulrich Steinhauer, erschossen an der Berliner Mauer: NVA-Wache am Ehrengrab auf dem Alten Friedhof in Ribnitz-Damgarten, 17. November 1981

Ulrich Steinhauer

geboren am 13. März 1956
erschossen am 4. November 1980


bei Schönwalde, gegenüber Eiskeller
am Außenring zwischen Schönwalde (Kreis Nauen) und Berlin-Spandau

Steinhauer, Ulrich

Ulrich Steinhauer, geboren am 13. März 1956 in Behrenshagen im Kreis Ribnitz-Damgarten an der Ostsee, wächst als Drittgeborener mit fünf Geschwistern in seinem Elternhaus auf. Der Vater arbeitet als Lagerist im VEB Faserplattenwerk Ribnitz-Damgarten, die Mutter zieht als Hausfrau die Kinder groß. Von 1962 bis 1970 besucht Ulrich Steinhauer die Grundschule in Behrenshagen und die Rudolf-Harbig-Oberschule in Damgarten. Im Jahr 1973 schließt er seine Lehre als Zimmerer in der Zwischenbetrieblichen Einrichtung Landbau in Damgarten ab, wo er die folgenden Jahre als Facharbeiter tätig ist. Seine jüngste Schwester Ilona beschreibt ihren Bruder als sparsamen Jugendlichen, der sein Geld für den Urlaub zusammenhält und jeden Sommer mit seinem Zelt quer durch die DDR unterwegs ist. [61]

Ulrich Steinhauer: geboren am 13. März 1956, erschossen am 4. November 1980 im Dienst als Grenzsoldat an der Berliner Mauer, Aufnahmedatum unbekannt
Im November 1979 wird Ulrich Steinhauer zur Ableistung seines Wehrdienstes ins Grenzausbildungsregiment 40 in Oranienburg eingezogen. Zwar pflegt die Familie lockere Westkontakte – ein Bruder der Mutter lebt seit 1961 in der Bundesrepublik; auch sind die Eltern nicht Mitglied der SED. Doch bietet seine Herkunft aus einer kinderreichen Arbeiterfamilie, zudem von der Küste, den Grenztruppen offenbar Gewähr für die erforderliche Zuverlässigkeit beim Dienst an der Grenze.

„Nun ist bald ein halbes Jahr rum", meldet sich Ulrich Steinhauer brieflich im April 1980 bei seinen Eltern. „Die Zeit ist für mich schnell vergangen. Die Zeit bei der Armee kann gar nicht schnell genug vergehen. Nächstes Jahr um diese Zeit sieht die Welt ganz anders aus." [62]

Nach seiner Grundausbildung wird er ab Mai 1980 im Grenzregiment 34 in Groß Glienicke im Norden Berlins eingesetzt. [63] Wie die meisten seiner Kameraden ist er kein begeisterter Grenzsoldat, sondern zählt die Tage bis zur Entlassung. „Nur im äußersten Notfall" werde er von der Schusswaffe Gebrauch machen, teilt Ulrich Steinhauer seinen Vorgesetzten im Grenzregiment mit, die bemängeln, dass er „zu ruhig" sei und nicht mehr mache, „als er selber für richtig hält". [64] Er habe seine 18 Monate Wehrpflicht hinter sich bringen wollen, ohne schießen zu müssen, berichtet seine Schwester Ilona, und gehofft, nie in eine solche Situation zu kommen. Ein Satz des Bruders ist ihr besonders in Erinnerung: „Du weißt nie, mit wem du da stehst, ist das mein Freund oder mein Feind." [65] Am 2. November 1980 schreibt er seinen Eltern und seiner Schwester, dass er Gefreiter und auch Postenführer geworden sei: „Noch 172 Tage. Warte auf Antwort", schließt der Brief. [66] Als er am 7. November der Familie zugestellt wird, ist Ulrich Steinhauer bereits seit drei Tagen tot.

Ulrich Steinhauer: geboren am 13. März 1956, erschossen am 4. November 1980 im Dienst als Grenzsoldat an der Berliner Mauer, Aufnahmedatum unbekannt
Der 4. November 1980 ist ein kalter Herbsttag. Ulrich Steinhauer ist für die Zeit von 13.00 Uhr bis 21.00 Uhr im Abschnitt Staaken-Schönwalde, gegenüber dem West-Berliner Ortsteil Eiskeller im Bezirk Spandau, als Postenführer eingeteilt. [67] An diesem Tag soll er den Grenzdienst mit Egon B. versehen, der gerade erst der Einheit in Groß Glienicke zugeteilt wurde. Ulrich Steinhauer ahnt nicht, dass sein Posten in den Westen flüchten will und sich gerade diesen Grenzabschnitt für sein Vorhaben ausgesucht hat. Bei dieser ersten näheren Begegnung macht Ulrich Steinhauer auf Egon B. im Unterschied zu anderen „scharfen" Postenführern einen freundlichen Eindruck, weshalb er hofft – wie er später angibt – sein Postenführer werde sich dem Fluchtversuch nicht in den Weg stellen. [68]

Am frühen Nachmittag werden beide von einer routinemäßigen Streife kontrolliert. [69] Danach glaubt Egon B. vor einer weiteren Kontrolle zunächst sicher zu sein. Es ist kurz nach 16.00 Uhr, als er sein Vorhaben in die Tat umsetzt. Den Vorschriften gemäß wäre Ulrich Steinhauer als Postenführer auf Streife einige Meter rechts oder links hinter seinem Posten versetzt gelaufen. Schenkt man Egon B.s späterer Darstellung Glauben, soll Ulrich Steinhauer jedoch einige Meter vor ihm gelaufen sein, als B., von seinem Postenführer unbemerkt, einen Stecker zieht und damit das akustische Grenzmeldenetz deaktiviert. [70] Dann entsichert er seine Waffe und lädt sie durch. Von dem Geräusch aufgeschreckt soll sich Ulrich Steinhauer zu ihm umgedreht haben. „Mach keinen Quatsch", soll er zu seinem Posten gesagt und seinerseits die Maschinenpistole von der Schulter genommen haben. [71] „Ich hau jetzt ab, wirf Deine Waffe weg!", will ihm Egon B. nach eigenen Angaben zugerufen und dabei zweimal warnend über seinen Kopf hinweg geschossen haben. [72] Doch statt seine Waffe wegzuwerfen, so die Darstellung von Egon B., habe Ulrich Steinhauer sie angeblich auf ihn gerichtet. Egon B. gibt fünf Schüsse ab. Doch nicht von einem Schuss von vorne, sondern von einer Kugel durch den Rücken ins Herz getroffen, bricht Ulrich Steinhauer schwer verletzt zusammen. Noch vor dem Eintreffen eines Arztes verstirbt er. [73]
Der Tote und seine Waffe werden von Grenzsoldaten zunächst aus dem Todesstreifen herausgetragen, aber kurze Zeit später auf Befehl von Vorgesetzten wieder an den ungefähren Fundort zurückgelegt. [74] Eine zuverlässige kriminaltechnische Untersuchung, wie sie später dem Generalstaatsanwalt in West-Berlin vorgespiegelt wird, ist dadurch nur noch eingeschränkt möglich, zumal sich einer der Grenzer nicht mehr daran erinnern kann, wo er welche Waffe gefunden hat. [75] Aus angeblichen Gründen der Rekonstruktion des Falles wird der Tote im Grenzstreifen gleichsam aufgebahrt und einen Tag lang den westlichen Medien dargeboten.

Mit seinem Postenfahrrad fährt Egon B. durch den Grenzstreifen an eine abgesenkte Stelle der Sperrmauer, lehnt es dort an, steigt auf den Sattel und überklettert so das letzte Hindernis auf dem Weg nach West-Berlin. [76] Er stellt sich der West-Berliner Polizei und berichtet von seiner Tat, woraufhin man ihn in Untersuchungshaft nimmt. Ein Auslieferungsersuchen der DDR-Generalstaatsanwaltschaft lehnt die West-Berliner Generalstaatsanwaltschaft mit der Begründung ab, dass in der DDR – unabhängig vom Entwicklungsstand des Täters – für Heranwachsende zwischen 18 und 21 Jahren nicht mehr das Jugend-, sondern das Erwachsenenstrafrecht angewendet werde. Das DDR-Recht trage somit dem Erfahrungssatz des bundesrepublikanischen Jugendgerichtsgesetzes nicht Rechnung, „dass ein junger Mensch im Alter von 18 bis 21 Jahren in seiner Verantwortlichkeit einem Erwachsenen nicht gleich gestellt werden kann". [77] Auf ein entsprechendes Rechtshilfeersuchen stellt der DDR-Generalstaatsanwalt den West-Berliner Behörden umfangreiches Beweismaterial zur Verfügung [78], dessen Aussagewert allerdings aufgrund der Versäumnisse bei der Tatortsicherung eingeschränkt ist.

Die West-Berliner Staatsanwaltschaft hegt keinen Zweifel, dass Egon B. nicht impulsiv gehandelt, sondern seine Tat vorbereitet und vorsätzlich geschossen hat. Die fünf Schüsse seien ganz schnell hintereinander gefallen – für den von Egon B. behaupteten Dialog mit seinem Opfer habe somit gar keine Zeit bestanden. [79] Der Schuss in den Rücken zeuge von Heimtücke. So erhebt sie Anklage wegen Mord.

Doch nach Meinung der Jugendkammer des Landgerichts Berlin ist nicht mit ausreichender Sicherheit bewiesen, dass der tödliche Schuss in den Rücken zuerst abgefeuert wurde. Deshalb wird die Hauptverhandlung schließlich nicht unter dem Vorwurf des Mordes, sondern des Totschlags eröffnet. [80] Im Herbst 1981 verurteilt die Jugendkammer Egon B. wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von sechs Jahren Haft. [81] Einen „rechtfertigenden Notstand", wie ihn die Verteidigung geltend macht, schließt das Gericht aus, weil das Interesse B.s, ohne Not zu fliehen, nicht das Interesse Ulrich Steinhauers an der Erhaltung seines Lebens überwiege. Im Widerstreit zwischen Freiheit und Leben habe das Leben Vorrang. [82] Sein selbstsüchtiges Verhalten rücke die Tat vielmehr „sehr nahe" an einen Mord. [83]

Aufgrund eines Revisionsantrages des Angeklagten hebt der Bundesgerichtshof den Strafausspruch des Urteils auf und verweist die Entscheidung an eine andere Jugendkammer zurück, die im Juni 1982 die Jugendstrafe von sechs Jahren bestätigt. [84] Anfang Februar 1983 wird das Strafmaß auf erneute erfolgreiche Revision beim Bundesgerichtshof in einem zweiten Wiederholungsverfahren vor dem Landgericht Berlin auf vier Jahre und neun Monate zur Bewährung herabgesetzt, weil der Angeklagte durch sein Verhalten gezeigt habe, dass er seine Tat zutiefst bereue und sich des ganzen Umfangs seiner Schuld bewusst geworden sei. [85] Schon im Juni 1982 hat ihm das Berliner Kammergericht Haftverschonung gewährt. [86]

Noch bis zum Ende der DDR wird Egon B. durch die Staatssicherheit im OV „Mörder" bearbeitet. Mit Hilfe von West-IM ist das MfS bis in alle Einzelheiten über sein neues Leben in der Bundesrepublik informiert. [87] Man plant zunächst seine „Rückführung" in die DDR und versucht dann, ihn mit Drohbriefen in den Suizid zu treiben. [88]

Ulrich Steinhauer, erschossen an der Berliner Mauer: Beisetzung auf dem Alten Friedhof in Ribnitz-Damgarten, 12. November 1980
In „Würdigung vorbildlicher und selbstloser Pflichterfüllung" befördert DDR-Verteidigungsminister Heinz Hoffmann Ulrich Steinhauer postum zum Unteroffizier und zeichnet ihn mit dem Kampforden „Für Verdienste um Volk und Vaterland" aus; die FDJ verleiht dem Toten die „Arthur-Becker-Medaille" in Gold. Am 12. November 1980 wird sein Leichnam auf dem Alten Friedhof in Ribnitz-Damgarten mit militärischen Ehren beigesetzt. [89] Die Trauerfeier und ihr Ablauf liegen in der Hand der Behörden; die Familie hat nichts zu entscheiden.

Eine Grenzkompanie, eine Schule, ein Gedenkboxturnier, Straßen und Arbeitskollektive werden nach Ulrich Steinhauer benannt, zu seinem Geburts- und Todestag und am „Tag der Grenztruppen" gibt es Kranzniederlegungen an seinem Grab. Sein Tod wird politisch instrumentalisiert, und die Angehörigen können sich dem nicht entziehen. „Das war für uns, vor allem für die Mutter, eine sehr große Belastung", erinnert sich Ulrich Steinhauers Schwester Ilona. „Mein Bruder hat nur seinen Dienst getan. Man hat ihn uns ein zweites Mal genommen, als er zum Helden stilisiert wurde." [90]

Text: Martin Ahrends/Udo Baron/Hans-Hermann Hertle

RIAS-Kommentar zur Flucht des DDR-Grenzers Egon B., der dabei seinen Postenführer Ulrich Steinhauer erschießt, und deshalb in West-Berlin verhaftet wird, 6. November 1980
(Quelle: Archiv Deutschlandradio, Sendung: RIAS-Aktuell/Rundschau am Abend, Kommentar: H. Wenderoth)
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