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Helmut Kliem: geboren am 2. Juni 1939, erschossen am 13. November 1970 an der Berliner Mauer (Aufnahmedatum unbekannt)

Helmut Kliem

geboren am 2. Juni 1939
erschossen am 13. November 1970


in Falkenhöh nahe der Pestalozzistraße
am Außenring zwischen Falkensee (Kreis Nauen) und Berlin-Spandau

Kliem, Helmut

Am Freitag, dem 13. November 1970, kommt Helmut Kliem gegen 6.45 Uhr von der Nachtschicht heim. Seine ebenfalls berufstätige Frau ist mit den beiden Kindern bereits außer Haus; auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstelle bringt sie die Kleinen im Hort vorbei. Für den Vormittag hat Helmut Kliems Halbbruder Bernhard, der an diesem Tag arbeitsfrei hat, seinen Besuch angekündigt.

Die Brüder gehen in die Staakener Gaststätte "Volkshaus", wo sie zum Mittagessen ein paar Biere und Schnäpse trinken und sich auf das bevorstehende Wochenende freuen: Schon am Abend soll eine Karnevals-Party steigen. Beiden geht es verhältnismäßig gut: Bernhard P. hat, nachdem er drei Jahre zuvor wegen „versuchter Republikflucht" eine Jugendstrafe verbüßen musste, inzwischen einen gut bezahlten Job beim Autobahnbau. Helmut Kliem, der am 2. Juni 1939 in Ebereschenhof geboren ist, arbeitet seit 1957 als Volkspolizist und ist nach jahrelangem Posten-, Streifen- und Revierdienst seit kurzem als Hauptwachtmeister beim Betriebsschutz des Lokomotiv- und Elektrotechnischen Werks Hennigsdorf eingesetzt. [31] Zusammen mit seiner Familie lebt er in Staaken, das unmittelbar an den West-Berliner Bezirk Spandau grenzt. Gegen 15.00 Uhr brechen die beiden Männer auf. Helmut Kliem will, wie am Vortag verabredet, seine Frau von der Frühschicht und die Kinder aus dem Kindergarten mit dem Motorrad abholen. Den Bruder nimmt er mit, auf seinem Touren-AWO-Gespann haben alle Platz.

Helmut Kliem, erschossen an der Berliner Mauer: MfS-Foto von der Zufahrtsstraße mit Grenzanlagen, 13. November 1970
Im Gespräch mit dem Bruder verpasst er dann allerdings die Abfahrt in jenen Waldweg, der zur Arbeitsstelle seiner Frau und zum Kinderhort führt, er fährt stattdessen weiter geradeaus und findet sich nach kurzer Strecke vor der vergitterten Zufahrt zu den Grenzanlagen. [32] Die Schilder, die das Grenzgebiet markieren, hat er übersehen. Etwa zehn Meter vor dem Tor kommt er zum Stehen. Hinter dem Tor sieht er einen Grenzsoldaten, dahinter steht ein Wachturm, der mit zwei Posten besetzt ist. Er hat sich offenbar verfahren, wendet das Motorrad, will zurück. Vielleicht nimmt er die Rufe des Grenzsoldaten nicht sonderlich ernst, der die Kradfahrer auffordert, stehen zu bleiben, vielleicht gehen sie auch im Motorengeräusch unter, ebenso wie möglicherweise ein Warnschuss. Denn ungeachtet dessen gibt Helmut Kliem Gas, um das Grenzgebiet umgehend zu verlassen.

Helmut Kliem, erschossen an der Berliner Mauer: Blick vom Wachturm auf Grenzanlagen und Zufahrtsstraße, 13. November 1970
Während die Posten auf dem Wachturm offenbar keinen Grund zum Einschreiten sehen, legt der Torwächter seine Maschinenpistole an, zielt auf die Motorradreifen und drückt ab. Sieben Schüsse lösen sich. Später wird er behaupten, dass ihm nicht bewusst war, seine Kalaschnikow auf Dauerfeuer eingestellt zu haben. Er schießt stehend freihändig auf ein sich bewegendes Ziel, als es etwa 30 Meter entfernt ist. Die Kalaschnikow hat, was jeder Schütze weiß, die Eigenart, bei Dauerfeuer nach oben rechts aus der anvisierten Zielrichtung „auszubrechen". Der Grenzposten trifft nicht die Reifen des Motorrads, sondern durch das Schulterblatt die Oberarmschlagader und –blutader des einen und die Hand des anderen Bruders, den eine weitere Kugel nur um Haaresbreite verfehlt. Helmut Kliem bremst, steigt vom Motorrad, geht einige Schritte auf den Posten zu und bricht zusammen. Ein Anwohner, der die Schüsse gehört und herbeigeeilt ist, um Helmut Kliem zu helfen, wird mit vorgehaltener Maschinenpistole von den Grenzposten daran gehindert. [33] „Schieß’ doch, du Sachsenschwein, erschieß’ mich doch auch", schreit Bernhard P. den Posten nach dessen Aussage erregt an, als er den eigenen Schmerz zu spüren und die tödliche Wirkung der Schussverletzung an der zerfetzten Lederjacke von Helmut Kliem zu erahnen beginnt. [34]
Helmut Kliem, erschossen an der Berliner Mauer: Motorrad von Helmut Kliem mit Einschusslöchern, 13. November 1970
Helmut Kliem, erschossen an der Berliner Mauer: Standorte von Helmut Kliem und Bernhard P. sowie des Grenzpostens, 13. November 1970
Erst eine Stunde später, nachdem ein Sanitätswagen die Brüder ins Krankenhaus Staaken gefahren hat, werden sie medizinisch versorgt. [35] Doch für Helmut Kliem kommt jede Hilfe zu spät. Gegen 16.30 Uhr erliegt er seinen Verletzungen. [36] Er ist verblutet.

Der Einsatz der Schusswaffe war selbst nach den Dienstvorschriften der Grenztruppen nicht gerechtfertigt; ein Grenzdurchbruch drohte erkennbar nicht. Die Tötung von Helmut Kliem erfüllt nach dem DDR-Strafgesetzbuch den Tatbestand des Mordes. [37] Eine Untersuchung durch die Militärstaatsanwaltschaft findet jedoch nicht statt. Der Kommandeur der zuständigen Grenzbrigade, Oberst Krug, bescheinigt den eingesetzten Grenzposten vielmehr ein vorschriftsmäßiges und „vorbildliches, klassenmäßiges Handeln", das in allen Einheiten des Truppenteils „auszuwerten" sei; entsprechend wird auch Erich Honecker vom Stadtkommandanten informiert. [38] Noch am selben Tag werden die beteiligten Grenzposten befördert und ausgezeichnet. Der Todesschütze erhält die „Medaille für vorbildlichen Grenzdienst". [39] Doch erst in den 1990er Jahren erfährt er von der tödlichen Folge seines Treffers, die ihm damals peinlichst verschwiegen wurde. 1997 verurteilt ihn das Landgericht Potsdam wegen Totschlags in Tateinheit mit versuchtem Totschlag zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und acht Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wird. [40]

Helmut Kliems Ehefrau wartet am 13. November 1970 um 16.00 Uhr vergebens auf ihren Mann. Enttäuscht holt sie die Kinder im Hort ab und geht zu Fuß nach Hause. Am Abend tauchen zwei Fremde bei ihr auf, die sich als Kriminalbeamte aus Potsdam ausgeben, erkundigen sich nach ihrem Mann, geben aber selbst keine Auskünfte. Erst am Vormittag des 14. November 1970 erfährt die Ehefrau in der Potsdamer Bezirksbehörde der Volkspolizei, dass Helmut Kliem tot ist. Die Todesursache wird ihr verschwiegen. Ihr Wunsch, ihren Mann noch einmal zu sehen, wird abgelehnt; der Leichnam sei schon eingeäschert, wird sie belogen. [41]

Zur gleichen Zeit wird ihr Schwager in Potsdam von der Stasi verhört. Aus dem Krankenhaus Staaken ist er am 13. November 1970 direkt in die Stasi-Untersuchungshaftanstalt in Potsdam abtransportiert worden, noch am gleichen Abend wird ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts versuchten „illegalen Verlassens" der DDR eingeleitet und Haftbefehl erlassen. Die Stasi-Vernehmer drängen auf ein Geständnis, das sie jedoch nicht bekommen. Die politische Abteilung der Potsdamer Staatsanwaltschaft braucht 14 Tage, um das Ermittlungsverfahren einzustellen; eine weitere Woche vergeht, bis der Haftbefehl aufgehoben und Bernhard P. freigelassen wird. [42] Nun wird der Tod seines Bruders ihm gegenüber als bedauerlicher Unglücksfall dargestellt. [43]

Sowohl Helmut Kliems Ehefrau als auch sein Halbbruder werden verpflichtet, über das Geschehene zu schweigen. In Staaken kursieren die verschiedensten Gerüchte, die Wahrheit jedoch findet kaum jemand heraus. Den Tatsachen am nächsten kommt offenbar der Leiter der „Arbeitsgruppe Grenze" bei der Volkspolizei Nauen: Durch Befragungen im Krankenhaus Staaken erhält er Kenntnis über die Hintergründe des Vorfalls. Weil es sich um eine Mordtat handele, die er nicht mit seinem Gewissen vereinbaren könne, gibt er aus Protest seine Waffe ab und kündigt an, seinen Dienst an der Grenze zu quittieren. [44]

Es dauert fast drei Monate, bis die Urne mit der Asche von Helmut Kliem am 4. Februar 1971 auf dem Friedhof von Falkensee beigesetzt werden kann. [45]

Text: Martin Ahrends/Udo Baron/Hans-Hermann Hertle

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