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Leo Lis: geboren am 10. Mai 1924, erschossen am 20. September 1969 bei einem Fluchtversuch an der Berliner Mauer (Aufnahmedatum unbekannt)
Den Opfern der Mauer: Fenster des Gedenkens der Gedenkstätte Berliner Mauer; Aufnahme 2010

Leo Lis

geboren am 10. Mai 1924
erschossen am 20. September 1969


in der Nähe des Nordbahnhofs
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Mitte und Berlin-Wedding

Lis, Leo

Leo Lis ist 45 Jahre alt, als er am 20. September 1969 bei einem Fluchtversuch in Berlin-Mitte erschossen wird. Geboren am 10. Mai 1924 im oberschlesischen Beuthen, dem heutigen polnischen Bytom, wohnt er gemeinsam mit seiner Frau und seinen sieben Kindern im sächsischen Hennersdorf. Dort arbeitet er als Melker bei einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG). [31] Die Motive, die ihn zur Flucht aus der DDR bewegt haben, liegen im Dunkeln.

Am 19. September 1969 verlässt Leo Lis seine Familie und fährt mit dem Zug nach Ost-Berlin. Einen Tag später, am 20. September 1969, begibt er sich gegen 20.00 Uhr ins Grenzgebiet in der Nähe des Nordbahnhofs. Er umgeht zunächst eine Hundelaufanlage. Als er unter einem Signalzaun hindurch kriecht, löst er Alarm aus. Ein Grenzposten verlässt den Turm, um ihn festzunehmen, kann ihn aber, da er den Signalzaun inzwischen hinter sich gelassen hat, in der Dunkelheit zunächst nicht finden. Die Posten auf den zwei gegenüberliegenden Türmen sehen offenbar mehr, denn nun beginnt eine "wilde Schießerei" von den Türmen her, so dass der Posten im Grenzstreifen unter einer umgekippten Lore Deckung suchen muss. [32] Auch auf einem der beiden Postentürme geht man in Deckung, als dieser versehentlich beschossen wird. "Feuer einstellen!", brüllt ein Grenzposten und bleibt ungehört. [33] Andere Grenzer feuern weiter, bis der Flüchtling, der inzwischen den Kolonnenweg, den Kontrollstreifen und die Panzersperren überwunden hat, reglos liegen bleibt. [34] Leo Lis wird von einem Brustdurchschuss lebensgefährlich verletzt; noch vor seinem Abtransport aus dem Grenzstreifen stellt ein Sanitäter seinen Tod fest. [35]

Insgesamt 78 Schuss haben die Grenzposten auf ihn abgegeben. Ein Schuss ist auf der West-Berliner Seite ins Gartenfenster eines Wohnhauses eingeschlagen und hat ein Rentner-Ehepaar, das dort beim Fernsehen saß, nur knapp verfehlt. "Wegen Sachbeschädigung und unbefugtem Waffenbesitz" wird der Rentner daraufhin eine Anzeige gegen Unbekannt aufgeben. [36]

Zahlreiche Anwohner auf Ost- und West-Berliner Seite hören die Schüsse und beobachten von ihren Fenstern aus das Geschehen. Rufe wie "Mörder" und "Ihr schießt auf eure eigenen Landsleute" [37] schallen den Grenzposten entgegen. Aus Protest gegen die Schüsse auf einen Flüchtenden werfen in der Nacht zum 21. September 1969 Jugendliche mit den Worten "Kommunistenschweine" und "Dreckskerle" Steine gegen die Grenzanlagen. [38] Ausführlich berichten in den folgenden Tagen die West-Berliner und die westdeutsche Presse über die Ereignisse und die Reaktion des zuständigen französischen Stadtkommandanten. Dieser verurteilt den Grenzzwischenfall an der Weddinger Sektorengrenze auf das Schärfste und betrachtet ihn "als ein[en] neue[n] Beweis von Menschenverachtung". [39]

Die beteiligten Grenzsoldaten werden mit der "Medaille für vorbildlichen Grenzdienst" ausgezeichnet. [40] Als sie sich mehr als drei Jahrzehnte später vor Gericht verantworten müssen, billigt ihnen die Berliner Staatsanwaltschaft zu, im Vertrauen auf die Rechtsgültigkeit der damaligen Befehlslage gehandelt zu haben und stellt das Ermittlungsverfahren Anfang April 1997 ein. [41]

Erst am 27. September 1969 wird die Ehefrau von Leo Lis über den Tod ihres Mannes unterrichtet, dessen Leichnam bereits eingeäschert wurde. Ein Angehöriger der Staatssicherheit, der sich als Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft ausgibt, teilt ihr mit, ihr "Ehemann sei beim Versuch, die DDR ungesetzlich zu verlassen, tödlich verletzt" [42] worden. Ohne weitere Erläuterungen erhält sie die Sterbeurkunde und einige Habseligkeiten, die Leo Lis bei seiner Flucht bei sich trug.

Zugleich muss sie sich schriftlich verpflichten, die Trauerfeier im engsten Kreis durchzuführen und auf eine Annonce zu verzichten. [43] Auch die Post der Familie Lis wird von nun an von der Staatssicherheit kontrolliert; inoffizielle Mitarbeiter des MfS sollen die Stimmung und die Reaktionen der Einwohner von Hennersdorf erfassen. [44]

Am 29. Oktober 1969 findet die Beisetzung der Urne mit der Asche von Leo Lis in Kamenz statt. Neben der Witwe und den Kindern nehmen nur noch die aus der Bundesrepublik eingereiste Stiefmutter von Leo Lis, seine Schwester sowie eine kleine Abordnung seiner LPG teil. Zufrieden stellt die Staatssicherheit fest, dass es zu keinen "negativen Diskussionen" kam. [45]

Text: Udo Baron

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