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Todesopfer

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Franciszek Piesik: Aufnahmedatum unbekannt
Franciszek Piesik: Erinnerungsstele am westlichen Ufer des Nieder Neuendorfer Sees

Franciszek Piesik

geboren am 23. November 1942
ertrunken am 17. Oktober 1967


im Nieder Neuendorfer See
am Außenring zwischen Hennigsdorf (Kreis Oranienburg) und Berlin-Heiligensee

Piesik, Franciszek

„Mittelgroß, blaue Augen, schwarzes, nach oben gekämmtes, lockiges Haar. Schlankes Gesicht. Besondere Merkmale: Auf dem linken Unterarm hat er ein tätowiertes Abbild eines langhaarigen Mädchens.“ So beschreibt eine damals 18-jährige Bewohnerin des Dorfes Bielinek den sechs Jahre älteren Franciszek Piesik. [67] Die junge Frau ist eine der letzten Personen, die ihm vor seiner Flucht aus Polen begegnen. [68]

Franciszek Piesik, Jahrgang 1942, [69] kennt das Leben im grenznahen Raum aus eigener Erfahrung. Er wächst in einer kinderreichen Familie in Widuchowa an der Oder auf, direkt an der „Friedensgrenze“ zur DDR. Anfang der 1960er-Jahre ist er in der Binnenschifffahrt beschäftigt – unter anderem auf einem Schwimmbagger und beim Flößen von Holz. Später lässt er sich in Bromberg nieder, heiratet und wird Vater einer Tochter. [70] Der junge Mann ist selbstbewusst, mit einer Neigung zum Risiko. Zweimal wird er straffällig und muss ins Gefängnis. Das erste Mal, weil er während seines Wehrdienstes seine Einheit eigenmächtig verlässt, [71] dann wegen Einbruchs in eine Bar [72]. Anfang 1967 ist er wieder frei und erhält einen Job als Schweißer und Lackierer bei den Bromberger Metallwerken. [73]

Die Stadt verlässt er am 30. September 1967. Seiner Frau Elzbieta sagt er lediglich, er wolle in Widuchowa seine kranke Mutter besuchen. [74] Dort aber bleibt er nicht lange. Bereits am 2. Oktober meldet sich Franciszek Piesik bei der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft Gryfino unweit der DDR-Grenze. Mit einem gefälschten Schulzeugnis bekommt er eine Arbeitsstelle in Żarczyn. Diesen Trick wiederholt er anderthalb Wochen später in einer anderen LPG im grenznahen Raum. [75] Während dieser Zeit besucht er seine Brüder Leon und Ryszard, die auf dem Schwimmbagger „Neptun“ in Bielinek an der Oder arbeiten. [76] Den dort Beschäftigten gegenüber spielt er vor, im staatlichen Auftrag landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften zu kontrollieren. [77] Warum Franciszek Piesik das tut, ist unklar. Vielleicht sucht er eine Stelle, an der er den Grenzfluss leicht hätte überqueren können. Möglicherweise ist er aber schon zu diesem Zeitpunkt fest entschlossen, dies in Bielinek zu tun, und braucht nur Zeit, um die Mitarbeiter des Schwimmbaggers für sich zu gewinnen.

Jeder, der den grenznahen Raum zwischen Polen und der DDR besucht, muss sich 1967 innerhalb von 24 Stunden polizeilich anmelden. [78] Franciszek Piesik ignoriert die Vorschrift. [79] Er hat Glück, von niemandem angezeigt zu werden. Offensichtlich hält ihn niemand für einen potenziellen Flüchtling, zumal er einst selber in Bielinek beschäftigt gewesen war.

Am 14. Oktober, einem Samstag, verbringt Franciszek Piesik den Abend wieder auf dem Schwimmbagger „Neptun“ und dem Wohnschiff „Matylda“. Seine Brüder Leon und Ryszard sind nicht mehr da; bereits am Nachmittag haben sie den Bus in Richtung Widuchowa genommen. Franciszek Piesik besteht darauf, auf dem Schwimmbagger „Neptun“ zu übernachten. [80] Gegen Mitternacht fällt einem Mitarbeiter auf, dass er verschwunden ist, ebenso wie der Ruderkahn des Baggers. Die Suche auf der polnischen Seite der Oder erweist sich als erfolglos. Ist der neue Bekannte ertrunken? Hat die Strömung den Kahn mitgerissen? Man entscheidet sich abzuwarten. Bei Tagesanbruch stellt sich heraus, dass der Ruderkahn auf der anderen Oderseite liegt. Damit gerät Franciszek Piesik automatisch unter Fluchtverdacht. Warum aber vertäut er das Boot am DDR-Ufer? Am Morgen des 15. Oktober werden die Grenztruppen im benachbarten Chojna benachrichtigt.

Einen Tag später leitet die Grenztruppenbrigade Stettin ein Ermittlungsverfahren wegen illegalen Grenzübertritts gegen den Gesuchten ein. [81] Den DDR-Grenztruppen werden seine Personalangaben samt Personenbeschreibung und zwei Fotos übermittelt. [82] Tatsächlich gelingt es Franciszek Piesik, unbemerkt in die Umgebung von Berlin zu kommen. Am 17. Oktober taucht er in der Nähe von Hennigsdorf auf, am nördlichen Stadtrand Berlins. Er trägt nicht nur einen Seitenschneider bei sich, sondern auch Skizzen des Grenzverlaufs in dieser Region. [83] Zwar ist Franciszek Piesik bis dahin niemals im Ausland gewesen. Aber er kennt Kollegen in der Binnenschifffahrt, die in die Bundesrepublik Deutschland und andere westliche Länder fahren dürfen. Vielleicht haben sie ihn mit den Details vertraut gemacht.

Am frühen Abend des 17. Oktober 1967 startet der junge Mann seinen Fluchtversuch. Bei Hennigsdorf entwendet er ein Motorboot und tuckert in südliche Richtung. [84] Franciszek Piesik will wohl eine Landzunge umfahren, die den Kanal vom Nieder Neuendorfer See trennt, der nur wenige hundert Meter breit ist. In der Mitte verläuft die Grenzlinie. Am anderen Ufer liegt der West-Berliner Ortsteil Heiligensee. Doch dann fällt das Boot den Grenzposten auf. „Als er aufgefordert wurde anzuhalten, sprang er aus dem Boot ins Wasser … die Kleidung und andere Sachen ließ er zurück“, schreibt später ein polnischer Grenzoffizier, der sich auf Auskünfte eines ostdeutschen Kollegen beruft. [85] Aus einer anderen Meldung geht hervor, dass Franciszek Piesik die sumpfige Landzunge noch erreichen kann und erst dort seine Sachen zurücklässt. [86] Auf jeden Fall muss er seinen ursprünglichen Plan ändern und nun den Nieder Neuendorfer See durchschwimmen. Für einen jungen Mann, der an der Oder aufgewachsen ist, stellt das unter normalen Umständen kein Problem dar. Es ist aber bereits der dritte Tag der Flucht, und es herrscht kühles Herbstwetter. Das Wasser hat kaum mehr als zehn Grad. Ertrinkt Franciszek Piesik wegen Unterkühlung und Entkräftung? Oder versteckt er sich vielleicht im sumpfigen Schilf und kommt dort ums Leben?

Die DDR-Grenzer informieren ihre polnischen Kollegen zunächst, dass geschossen worden sei; die Mitteilung wird aber bald dementiert. [87] Ein interner Bericht der Nationalen Volksarmee (NVA) rügt sogar die „Nichtanwendung der Schusswaffe zur Festnahme oder Vernichtung des Grenzverletzers“. [88] Eine Meldung der West-Berliner Polizei stärkt diese Version. „Ein Schusswaffengebrauch durch ‚NVA‘ in dem in Rede stehenden Zeitraum ist nicht bekannt geworden“, heißt es. [89]


Franciszek Piesik, ertrunken im Berliner Grenzgewässer: Bootssteg in Heiligensee, von dem aus die Leiche entdeckt wurde
Die DDR-Grenzer gehen zunächst davon aus, dass die Flucht gelungen ist. [90] Nach elf Tagen, am 28. Oktober, wird aber auf der West-Berliner Seite des Sees Franciszek Piesiks Leiche geborgen. [91] Seine Atemwege, so ergibt die Obduktion, sind voller Schlamm. Hinweise auf äußere Gewalt gibt es nicht. [92]

Typisch für kommunistische Staaten ist der Umgang der polnischen Behörden mit der Familie des Flüchtlings. Franciszek Piesiks Angehörige erinnern sich an häufige Besuche von Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes. Sie werden verhört und eingeschüchtert, ihre Wohnungen sorgfältig durchsucht. Über Fortschritte bei den Ermittlungen erhalten sie keine Auskünfte. [93] Franciszek Piesiks Ehefrau, die sich an die Grenztruppen wendet, erfährt im Frühjahr 1968, ihr Mann habe die Grenze zur DDR illegal überquert – sein weiteres Schicksal sei unbekannt. [94] Der West-Berliner Polizei stellt die polnische Seite Mitte Januar 1968 Fingerabdrücke zur Verfügung. Damit kann der Tote zweifelsfrei identifiziert werden. [95] Fast ein halbes Jahr nach seinem Tod wird Franciszek Piesik auf dem Friedhof Berlin-Heiligensee beigesetzt [96] - genau in dem Ortsteil, den er im Oktober 1967 hatte erreichen wollen. Weil die Grabmiete unbezahlt bleibt, wird das Grab nach wenigen Jahren aufgelöst. [97]

Bis heute ist unklar, warum sich Franciszek Piesik 1967 entschied, Polen zu verlassen. Im Ermittlungsverfahren wird darauf hingewiesen, er habe in Briefkontakt mit Personen in Essen und Düsseldorf gestanden. [98] Die Familie bestätigt, Post aus der Bundesrepublik bekommen zu haben. [99]Vermutlich hat Franciszek Piesik vor, seine Verwandten in Essen zu besuchen. Nimmt er in Kauf, dass seine Frau und Tochter in Bromberg blieben? Spielen möglicherweise Eheprobleme eine Rolle - oder eher die Tatsache, dass seine Mutter schwer erkrankt ist und Medikamente braucht, die in Polen nicht erhältlich sind? Will er vielleicht einfach nur in Freiheit leben? Man wird es wahrscheinlich nie erfahren.


Text: Filip Ganczak/Magdalena Dźwigał




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