geboren am 4. Januar 1943
erschossen am 5. Oktober 1964
auf dem Hof der Strelitzer
Straße 55
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Mitte und Berlin-Wedding
Schultz, Egon
Im Dezember 1964 treiben in der Nähe des Grenzübergangs Checkpoint Charlie Ballons über die Mauer in den Ostteil der Stadt. Daran befestigt sind Flugblätter mit einem Brief an die Mutter des getöteten Grenzers Egon Schultz, verfasst von seinen angeblichen Mördern, als welche die Fluchthelfer in den Wochen zuvor von der DDR-Presse bezichtigt wurden. [81] „Wir sprechen für unsere Gruppe, die in halbjähriger Arbeit jenen Tunnel baute, durch welchen 57 Flüchtlinge kamen und vor dessen Eingang ihr Sohn erschossen wurde." Die Verfasser der Botschaft übermitteln der Mutter ihre Anteilnahme und stellen aus ihrer Sicht die Abläufe der Fluchtaktion und deren tödlichen Ausgang für den Grenzsoldaten dar: „Der ursächliche Mörder ist der Staatssicherheitsdienst. Die Männer, die mit größter Schauspielkunst zunächst Flüchtlinge gespielt hatten, waren nicht gewillt, selbst einzuschreiten. Sie haben dazu den Uniformierten herbeigeholt, um von ihm die Situation klären zu lassen. Der eigentliche Mörder ist jedoch das System, welches der Massenflucht seiner Bürger nicht durch die Beseitigung der Ursachen begegnet, sondern durch die MAUER und einen Schießbefehl von Deutschen auf Deutsche." [82]
Egon Schultz wird 1943 in Pommern geboren. Er ist sieben Jahre alt, als seine Eltern mit ihren beiden Söhnen aus Polen in die DDR übersiedeln. In Groß Stove bei Rostock findet die Umsiedlerfamilie ein neues Zuhause, 1957 erfolgt der Umzug nach Rostock. Dort besucht Egon Schultz bis zum Abschluss der 10. Klasse die Borwinschule. In dieser Zeit wächst sein Wunsch, den Lehrerberuf zu ergreifen. Er arbeitet gern mit Kindern und betreut seit seiner Aufnahme in die FDJ als Pioniergruppenleiter eine Klasse jüngerer Schüler. [83] Im Juli 1960 erhält er die Zulassung zum Studium als Unterstufenlehrer am Institut für Lehrerbildung in Putbus auf der Insel Rügen. [84] Aus einer Arbeiterfamilie stammend - sein Vater arbeitet als Kraftfahrer, die Mutter ist als Serviererin tätig und der vier Jahre ältere Bruder hat den Beruf des Malers erlernt – soll er als jüngster Sohn studieren. [85] Welche staatlichen Erwartungen Egon Schultz auf diesem Bildungsweg zu erfüllen hat, wird ihm in der „Einberufung" vom Lehrerbildungsinstitut mitgeteilt: „Wir hoffen, dass Sie in fachlicher und gesellschaftlicher Hinsicht Ihre ganze Kraft für ein erfolgreiches Studium einsetzen werden." [86]
An das zweijährige Direktstudium schließt sich ein schulpraktisches Jahr an, das Egon Schultz in Rostock-Dierkow absolviert. Bei dem wöchentlichen Studientag der Absolventen freundet sich Egon Schultz mit seinem Kollegen Michael Baade an. Am 1. September 1963 übernimmt er eine 1. Klasse. Doch kurz nach Schuljahresbeginn erhält Egon Schultz die Einberufung zur NVA. [87] Er verpflichtet sich als Soldat auf Zeit zu einem Wehrdienst von drei Jahren und wird am 2. November zu den Grenztruppen eingezogen. Wenig später berichtet er seinem Freund von den ersten Eindrücken: „Hier wird nur nach der Pfeife getanzt. […] Man braucht gar nicht mehr zu denken, die Hauptsache, du läufst, wenn gepfiffen wird. Ich glaube, so allmählich verblöde ich hier." [88] In zahlreichen Briefen lässt Egon Schultz den Freund am Soldatenalltag teilhaben, erzählt ihm vom anstrengenden Dienst, aber auch von seinen Versuchen, trotz der Uniform ein Mädchen kennenzulernen. Ebenso selbstverständlich berichtet der angehende Unteroffizier über seine Erfolge bei der Schießausbildung. Im August 1964 wird er Kandidat der SED. [89] Nicht nur innerhalb der Grenztruppen, sondern auch gegenüber seinen ehemaligen Schülern, die ihm zahlreiche Briefe schreiben, zeigt er sich als „klassenbewusster Bewacher der Staatsgrenze": „Es ist eine gute Aufgabe, unser Vaterland vor seinem Feind zu schützen", schreibt er an die Schulklasse seines Freundes, die eine Patenschaft für ihn übernommen hat. [90] Nach Beendigung seiner Unteroffiziersausbildung versieht er ab Frühjahr 1964 seinen Dienst als Gruppenführer im Grenzregiment 34 in Berlin Mitte. Zum Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1964 soll er Darstellungen in offiziellen Biographien zufolge mit dem Bestenabzeichen geehrt werden. [91]
Am 4. Oktober 1964 ist der Unteroffizier Egon Schultz als Reserve am Führungspunkt Arkonaplatz in Berlin-Mitte eingeteilt. [92] Es ist gegen Mitternacht, als ein MfS-Offizier die Unterstützung durch die Grenzer anfordert. Der Auftrag lautet, verdächtige Personen in der Strelitzer Straße 55 zu kontrollieren und festzunehmen. [93] Das Grundstück befindet sich in unmittelbarer Nähe der Grenzsperren, die sich entlang der Bernauer Straße erstrecken. Was Egon Schultz und seinen Kameraden nicht mitgeteilt wird, ist der eigentliche Grund des Einsatzes: Die Stasi hat durch Spitzel-Informationen von einer Fluchtaktion erfahren. [94] Bei der Kontrolle des grenznahen Gebietes sind zwei MfS-Mitarbeiter im Hausflur der Strelitzer Straße 55 auf zwei der Fluchthelfer gestoßen, die sie irrtümlich für Flüchtlinge gehalten haben. Unter dem Vorwand, sie müssten noch einen aus der Haft entlassenen Freund holen, können die vermeintlichen Flüchtlinge noch einmal das Haus verlassen. [95] Während sich die Stasi-Mitarbeiter bei den Grenztruppen Unterstützung organisieren, warten die Fluchthelfer auf deren Rückkehr. Den West-Berliner Studenten ist es in monatelanger Arbeit unter größter Geheimhaltung gelungen, einen 145 Meter langen Tunnel nach Ost-Berlin zu graben. Von einer stillgelegten Bäckerei in der Bernauer Straße erstreckt sich der Tunnel in elf Metern Tiefe zum Hof der Strelitzer Straße 55, wo er in einem Toilettenhäuschen endet. Später wird er nach der Anzahl der Flüchtlinge als „Tunnel 57" berühmt. Unter den Fluchthelfern befindet sich auch Reinhard Furrer, der spätere Astronaut. Zusammen mit drei weiteren Fluchthelfern wartet er auf Ost-Berliner Gebiet auf die Flüchtlinge, um sie zum Tunneleingang zu führen. Gegen 0.30 Uhr kehren die Unbekannten mit Verstärkung durch Grenzsoldaten zurück. Viel zu spät erkennt Reinhard Furrer in der Dunkelheit die auf ihn gerichtete Waffe. Des Ortes kundig weicht er auf den Hof zurück, warnt im Rennen seine Freunde vor der Gefahr und verschwindet im Tunnel. Schüsse peitschen durch die Nacht. Die Fluchthelfer retten sich in letzter Minute in den sicheren Westen. Im Hof liegt Egon Schultz, von zehn Kugeln getroffen. Für ihn gibt es keine Hilfe mehr, er stirbt auf dem Weg ins Volkspolizei-Krankenhaus. [96]
Schon Stunden später melden die DDR-Nachrichten den Tod des Grenztruppen-Unteroffiziers, der von „Westberliner Agenten durch gezielte Schüsse meuchlings ermordet" worden sei. [97] In Ost und West überschlagen sich die Medienberichte. [98] Die DDR-Propaganda erklärt Egon Schultz zum heldenhaften Märtyrer und greift die Mörder und deren angebliche Hintermänner an. Im Westen wird den Fluchthelfern trotz aller Kritik an ihrem Vorgehen Notwehr zugestanden. [99]
Gegen die Fluchthelfer, die meisten von ihnen selbst DDR-Flüchtlinge, werden sowohl im Osten als auch im Westen Untersuchungen eingeleitet. [100] Den West-Berliner Ermittlern gegenüber räumen sie ein, dass einer von ihnen geschossen hat. Ein Nachweis, dass dessen Schüsse zum Tod von Egon Schultz geführt haben, liegt aber nicht vor, da die Ost-Berliner Staatsanwaltschaft dem Amtshilfeersuchen aus West-Berlin nicht nachkommt. Die DDR-Seite fordert dagegen die Auslieferung des angeblichen Mörders. [101] Im November 1965 stellt die West-Berliner Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen die Fluchthelfer ein. Sie werden lediglich wegen unerlaubten Waffenbesitzes zu einer Geldstrafe verurteilt. [102] Bereits zu diesem Zeitpunkt gibt es Anhaltspunkte, dass Egon Schultz von einem Kameraden erschossen wurde. So berichtet der im Juni 1965 geflüchtete Grenzsoldat K. von einer Dienstauswertung innerhalb der Grenztruppen, bei der sein Zugführer erklärt habe, „in einem anderen Regiment sei in der gerade vergangenen Nacht ein Unglücksfall [...] passiert. Ein Postenführer, so berichtete er weiter, sei von seinem Posten erschossen worden." Wenig später sei diese Darstellung im Politunterricht als falsch zurückgenommen worden. [103] Die Ergebnisse der Untersuchungen in Ost-Berlin, die von der Stadtkommandantur und vom MfS geführt werden, unterliegen höchster Geheimhaltung. Denn Egon Schultz ist von dem Fluchthelfer zwar getroffen worden, die tödlichen Schüsse stammen aber aus der Kalaschnikow seines Kameraden. [104] Um den Sachverhalt zu verschleiern, lässt das MfS die Obduktionsunterlagen aus der Charité verschwinden. [105] In der Einschätzung der Abläufe durch die Abteilung Sicherheitsfragen des SED-Zentralkomitees heißt es, die beiden MfS-Mitarbeiter hätten „beim ersten Zusammentreffen mit den Terroristen [...] politisch inkonsequent und taktisch unentschlossen gehandelt. [...] Selbst bei dem Spiel mit der Legende, die in der konkreten Situation ein Fehler war, hätte bei [...] einer zweckmäßigeren Entschlussfassung und besseren Einweisung der Grenzsicherungskräfte sowie des zweckmäßigeren Einsatzes der vorhandenen Kräfte und Mittel mit aller Wahrscheinlichkeit dieser tragische Ausgang verhindert werden können." [106] Das Geschehen, das sich auf dem Hof der Strelitzer Straße 55 abgespielt hat, bietet der SED-Führung zwei Tage vor dem 15. Jahrestag der DDR-Gründung und unmittelbar vor dem Abschluss eines neuen Passierscheinabkommens mit dem West-Berliner Senat die Möglichkeit für eine politische Kampagne. [107] Die versehentliche Tötung von Egon Schultz durch einen DDR-Grenzsoldaten wird aus propagandistischen Gründen den West-Berliner Fluchthelfern als Mord angelastet. Strafrechtliche Ermittlungen gegen den eigentlichen Schützen werden nicht veranlasst [108], jedoch wird gegen die Fluchthelfer ermittelt, ohne dass es zur Anklage kommt. [109] Die Trauerfeier für Egon Schultz in der Friedrich-Engels-Kaserne in Berlin und das Staatsbegräbnis mit allen militärischen Ehren in seiner Heimatstadt Rostock werden zu einer politischen Demonstration der DDR-Staatsführung. Erich Honecker weist in seiner Ansprache als Mitglied des SED-Politbüros in Anwesenheit von Mitgliedern des ZK der SED und der Grenztruppenführung die Schuld am Tod von Egon Schultz dem Westen zu und nimmt Bezug auf die aktuelle Verständigungspolitik: „Die tödlichen Schüsse waren also auch gegen das neue Passierscheinabkommen gerichtet, sie waren gerichtet gegen den antifaschistischen Schutzwall, der seit dem 13. August unseren und Euren Frieden bewahrt." [110]
Bei der Überführung des Sarges von Berlin nach Rostock säumen Zehntausende dazu beorderte Werktätige die Straßen und geben Egon Schultz das letzte Geleit. Unter den Klängen des Liedes „Unsterbliche Opfer" wird er auf dem Neuen Friedhof in Rostock beigesetzt und sein Tod damit in die Tradition der internationalen Arbeiterbewegung gestellt. Die Rostocker Schule, an der er als Lehrer gearbeitet hat, erhält am Tag seiner Beisetzung im Rahmen eines feierlichen Pionierappells den Ehrentitel „Egon-Schultz-Oberschule". In der Folgezeit werden mehr als einhundert Kollektive, Schulen und Institutionen nach Egon Schultz benannt [111] und der ehemalige Lehrer zum Idol eines sozialistischen Kämpfers erhoben. [112] In der Strelitzer Straße, die zum 13. August 1966 in Egon-Schultz-Straße umbenannt wird [113], erinnert seit dem 4. Januar 1965 am Haus Nr. 55 eine Gedenktafel an seinen Tod und prangert die angeblichen West-Berliner Agenten des Meuchelmordes an. Alljährlich wird an diesem Ort wie an vielen anderen Stellen – häufig im Beisein seiner Eltern – des Toten gedacht.
Im Zuge der strafrechtlichen Verfolgung von Gewalttaten an der Grenze werden 1992 Ermittlungen wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung aufgenommen, in deren Verlauf die Rolle aller beteiligten Personen untersucht wird, also auch die der Angehörigen des MfS und der Grenztruppen. [114] In einer groß angelegten Kampagne im „Neuen Deutschland" wird daraufhin für die aus Perspektive der Initiatoren unrechtmäßig verfolgten Grenzsoldaten eine Spendensammlung veranlasst, um ihnen ausgewiesenen Rechtsbeistand zu vermitteln und Prozesskosten begleichen zu können. Die Verwaltung der Spenden in Höhe von fast 200.000 DM obliegt der Gesellschaft für rechtliche und humanitäre Hilfe (GRH), in der sich ehemalige Mitarbeiter des MfS, der Grenztruppen und der SED organisiert haben. [115] Im Ergebnis der Ermittlungen stellt sich zweifelsfrei heraus, dass der Fluchthelfer Christian Zobel zuerst geschossen hat, um sich und Reinhard Furrer der Festnahme zu entziehen. Er verletzte Egon Schultz durch einen Lungensteckschuss. Die tödlichen Schüsse wurden jedoch aus der Kalaschnikow des Grenzsoldaten abgegeben, der auf Weisung des MfS-Offiziers in den dunklen Hof schoss und Egon Schultz dabei versehentlich traf. Er starb an Verblutungen in das Körperinnere. [116] Dem Grenzsoldaten, der die tödlichen Schüsse abgab, wird Notwehr zugebilligt und das Verfahren gegen ihn eingestellt, da er darüber hinaus auf Befehl geschossen habe. [117]
Als Reaktion auf das Ermittlungsverfahren gegen die Grenzer und MfS-Mitarbeiter erfolgt im Mai 1994 eine private Strafanzeige gegen Reinhard Furrer als angeblichen Mörder von Egon Schultz. Der Anklage schließt sich die Mutter von Egon Schultz an, vertreten durch eine renommierte West-Berliner Anwaltskanzlei. Eine weitere Anzeige geht im August bei der Berliner Staatsanwaltschaft ein. [118] Als Reinhard Furrer bei einem Flugunfall im September 1995 ums Leben kommt und sich herausstellt, dass Christian Zobel bereits verstorben ist, wird das Verfahren auf Veranlassung der Anwälte der Mutter von Egon Schultz auf die anderen Fluchthelfer wegen angeblicher Beihilfe zum Mord erweitert. Dieses Verfahren wird im Sommer 1999 eingestellt, „da es sich bei der Schussabgabe des Zobel um eine sogenannte Exzesstat [handelt], die den übrigen Beschuldigten nicht zuzurechnen ist." [119]
Die Umstände, die zum Tod von Egon Schultz geführt haben, polarisieren bis in die Gegenwart. [120] Unumstritten ist jedoch, dass Egon Schultz ein Todesopfer der Mauer ist. Auf der neuen Gedenktafel am Gebäude der Strelitzer Straße 55, die auf Initiative einiger Fluchthelfer und eines Freundes angebracht worden ist, wird Egon Schultz als Maueropfer gewürdigt und die Propaganda-Lüge über seinen Tod aus der Welt geschafft.
Maria Nooke
Egon Schultz wird 1943 in Pommern geboren. Er ist sieben Jahre alt, als seine Eltern mit ihren beiden Söhnen aus Polen in die DDR übersiedeln. In Groß Stove bei Rostock findet die Umsiedlerfamilie ein neues Zuhause, 1957 erfolgt der Umzug nach Rostock. Dort besucht Egon Schultz bis zum Abschluss der 10. Klasse die Borwinschule. In dieser Zeit wächst sein Wunsch, den Lehrerberuf zu ergreifen. Er arbeitet gern mit Kindern und betreut seit seiner Aufnahme in die FDJ als Pioniergruppenleiter eine Klasse jüngerer Schüler. [83] Im Juli 1960 erhält er die Zulassung zum Studium als Unterstufenlehrer am Institut für Lehrerbildung in Putbus auf der Insel Rügen. [84] Aus einer Arbeiterfamilie stammend - sein Vater arbeitet als Kraftfahrer, die Mutter ist als Serviererin tätig und der vier Jahre ältere Bruder hat den Beruf des Malers erlernt – soll er als jüngster Sohn studieren. [85] Welche staatlichen Erwartungen Egon Schultz auf diesem Bildungsweg zu erfüllen hat, wird ihm in der „Einberufung" vom Lehrerbildungsinstitut mitgeteilt: „Wir hoffen, dass Sie in fachlicher und gesellschaftlicher Hinsicht Ihre ganze Kraft für ein erfolgreiches Studium einsetzen werden." [86]
An das zweijährige Direktstudium schließt sich ein schulpraktisches Jahr an, das Egon Schultz in Rostock-Dierkow absolviert. Bei dem wöchentlichen Studientag der Absolventen freundet sich Egon Schultz mit seinem Kollegen Michael Baade an. Am 1. September 1963 übernimmt er eine 1. Klasse. Doch kurz nach Schuljahresbeginn erhält Egon Schultz die Einberufung zur NVA. [87] Er verpflichtet sich als Soldat auf Zeit zu einem Wehrdienst von drei Jahren und wird am 2. November zu den Grenztruppen eingezogen. Wenig später berichtet er seinem Freund von den ersten Eindrücken: „Hier wird nur nach der Pfeife getanzt. […] Man braucht gar nicht mehr zu denken, die Hauptsache, du läufst, wenn gepfiffen wird. Ich glaube, so allmählich verblöde ich hier." [88] In zahlreichen Briefen lässt Egon Schultz den Freund am Soldatenalltag teilhaben, erzählt ihm vom anstrengenden Dienst, aber auch von seinen Versuchen, trotz der Uniform ein Mädchen kennenzulernen. Ebenso selbstverständlich berichtet der angehende Unteroffizier über seine Erfolge bei der Schießausbildung. Im August 1964 wird er Kandidat der SED. [89] Nicht nur innerhalb der Grenztruppen, sondern auch gegenüber seinen ehemaligen Schülern, die ihm zahlreiche Briefe schreiben, zeigt er sich als „klassenbewusster Bewacher der Staatsgrenze": „Es ist eine gute Aufgabe, unser Vaterland vor seinem Feind zu schützen", schreibt er an die Schulklasse seines Freundes, die eine Patenschaft für ihn übernommen hat. [90] Nach Beendigung seiner Unteroffiziersausbildung versieht er ab Frühjahr 1964 seinen Dienst als Gruppenführer im Grenzregiment 34 in Berlin Mitte. Zum Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1964 soll er Darstellungen in offiziellen Biographien zufolge mit dem Bestenabzeichen geehrt werden. [91]
Am 4. Oktober 1964 ist der Unteroffizier Egon Schultz als Reserve am Führungspunkt Arkonaplatz in Berlin-Mitte eingeteilt. [92] Es ist gegen Mitternacht, als ein MfS-Offizier die Unterstützung durch die Grenzer anfordert. Der Auftrag lautet, verdächtige Personen in der Strelitzer Straße 55 zu kontrollieren und festzunehmen. [93] Das Grundstück befindet sich in unmittelbarer Nähe der Grenzsperren, die sich entlang der Bernauer Straße erstrecken. Was Egon Schultz und seinen Kameraden nicht mitgeteilt wird, ist der eigentliche Grund des Einsatzes: Die Stasi hat durch Spitzel-Informationen von einer Fluchtaktion erfahren. [94] Bei der Kontrolle des grenznahen Gebietes sind zwei MfS-Mitarbeiter im Hausflur der Strelitzer Straße 55 auf zwei der Fluchthelfer gestoßen, die sie irrtümlich für Flüchtlinge gehalten haben. Unter dem Vorwand, sie müssten noch einen aus der Haft entlassenen Freund holen, können die vermeintlichen Flüchtlinge noch einmal das Haus verlassen. [95] Während sich die Stasi-Mitarbeiter bei den Grenztruppen Unterstützung organisieren, warten die Fluchthelfer auf deren Rückkehr. Den West-Berliner Studenten ist es in monatelanger Arbeit unter größter Geheimhaltung gelungen, einen 145 Meter langen Tunnel nach Ost-Berlin zu graben. Von einer stillgelegten Bäckerei in der Bernauer Straße erstreckt sich der Tunnel in elf Metern Tiefe zum Hof der Strelitzer Straße 55, wo er in einem Toilettenhäuschen endet. Später wird er nach der Anzahl der Flüchtlinge als „Tunnel 57" berühmt. Unter den Fluchthelfern befindet sich auch Reinhard Furrer, der spätere Astronaut. Zusammen mit drei weiteren Fluchthelfern wartet er auf Ost-Berliner Gebiet auf die Flüchtlinge, um sie zum Tunneleingang zu führen. Gegen 0.30 Uhr kehren die Unbekannten mit Verstärkung durch Grenzsoldaten zurück. Viel zu spät erkennt Reinhard Furrer in der Dunkelheit die auf ihn gerichtete Waffe. Des Ortes kundig weicht er auf den Hof zurück, warnt im Rennen seine Freunde vor der Gefahr und verschwindet im Tunnel. Schüsse peitschen durch die Nacht. Die Fluchthelfer retten sich in letzter Minute in den sicheren Westen. Im Hof liegt Egon Schultz, von zehn Kugeln getroffen. Für ihn gibt es keine Hilfe mehr, er stirbt auf dem Weg ins Volkspolizei-Krankenhaus. [96]
Schon Stunden später melden die DDR-Nachrichten den Tod des Grenztruppen-Unteroffiziers, der von „Westberliner Agenten durch gezielte Schüsse meuchlings ermordet" worden sei. [97] In Ost und West überschlagen sich die Medienberichte. [98] Die DDR-Propaganda erklärt Egon Schultz zum heldenhaften Märtyrer und greift die Mörder und deren angebliche Hintermänner an. Im Westen wird den Fluchthelfern trotz aller Kritik an ihrem Vorgehen Notwehr zugestanden. [99]
Gegen die Fluchthelfer, die meisten von ihnen selbst DDR-Flüchtlinge, werden sowohl im Osten als auch im Westen Untersuchungen eingeleitet. [100] Den West-Berliner Ermittlern gegenüber räumen sie ein, dass einer von ihnen geschossen hat. Ein Nachweis, dass dessen Schüsse zum Tod von Egon Schultz geführt haben, liegt aber nicht vor, da die Ost-Berliner Staatsanwaltschaft dem Amtshilfeersuchen aus West-Berlin nicht nachkommt. Die DDR-Seite fordert dagegen die Auslieferung des angeblichen Mörders. [101] Im November 1965 stellt die West-Berliner Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen die Fluchthelfer ein. Sie werden lediglich wegen unerlaubten Waffenbesitzes zu einer Geldstrafe verurteilt. [102] Bereits zu diesem Zeitpunkt gibt es Anhaltspunkte, dass Egon Schultz von einem Kameraden erschossen wurde. So berichtet der im Juni 1965 geflüchtete Grenzsoldat K. von einer Dienstauswertung innerhalb der Grenztruppen, bei der sein Zugführer erklärt habe, „in einem anderen Regiment sei in der gerade vergangenen Nacht ein Unglücksfall [...] passiert. Ein Postenführer, so berichtete er weiter, sei von seinem Posten erschossen worden." Wenig später sei diese Darstellung im Politunterricht als falsch zurückgenommen worden. [103] Die Ergebnisse der Untersuchungen in Ost-Berlin, die von der Stadtkommandantur und vom MfS geführt werden, unterliegen höchster Geheimhaltung. Denn Egon Schultz ist von dem Fluchthelfer zwar getroffen worden, die tödlichen Schüsse stammen aber aus der Kalaschnikow seines Kameraden. [104] Um den Sachverhalt zu verschleiern, lässt das MfS die Obduktionsunterlagen aus der Charité verschwinden. [105] In der Einschätzung der Abläufe durch die Abteilung Sicherheitsfragen des SED-Zentralkomitees heißt es, die beiden MfS-Mitarbeiter hätten „beim ersten Zusammentreffen mit den Terroristen [...] politisch inkonsequent und taktisch unentschlossen gehandelt. [...] Selbst bei dem Spiel mit der Legende, die in der konkreten Situation ein Fehler war, hätte bei [...] einer zweckmäßigeren Entschlussfassung und besseren Einweisung der Grenzsicherungskräfte sowie des zweckmäßigeren Einsatzes der vorhandenen Kräfte und Mittel mit aller Wahrscheinlichkeit dieser tragische Ausgang verhindert werden können." [106] Das Geschehen, das sich auf dem Hof der Strelitzer Straße 55 abgespielt hat, bietet der SED-Führung zwei Tage vor dem 15. Jahrestag der DDR-Gründung und unmittelbar vor dem Abschluss eines neuen Passierscheinabkommens mit dem West-Berliner Senat die Möglichkeit für eine politische Kampagne. [107] Die versehentliche Tötung von Egon Schultz durch einen DDR-Grenzsoldaten wird aus propagandistischen Gründen den West-Berliner Fluchthelfern als Mord angelastet. Strafrechtliche Ermittlungen gegen den eigentlichen Schützen werden nicht veranlasst [108], jedoch wird gegen die Fluchthelfer ermittelt, ohne dass es zur Anklage kommt. [109] Die Trauerfeier für Egon Schultz in der Friedrich-Engels-Kaserne in Berlin und das Staatsbegräbnis mit allen militärischen Ehren in seiner Heimatstadt Rostock werden zu einer politischen Demonstration der DDR-Staatsführung. Erich Honecker weist in seiner Ansprache als Mitglied des SED-Politbüros in Anwesenheit von Mitgliedern des ZK der SED und der Grenztruppenführung die Schuld am Tod von Egon Schultz dem Westen zu und nimmt Bezug auf die aktuelle Verständigungspolitik: „Die tödlichen Schüsse waren also auch gegen das neue Passierscheinabkommen gerichtet, sie waren gerichtet gegen den antifaschistischen Schutzwall, der seit dem 13. August unseren und Euren Frieden bewahrt." [110]
Bei der Überführung des Sarges von Berlin nach Rostock säumen Zehntausende dazu beorderte Werktätige die Straßen und geben Egon Schultz das letzte Geleit. Unter den Klängen des Liedes „Unsterbliche Opfer" wird er auf dem Neuen Friedhof in Rostock beigesetzt und sein Tod damit in die Tradition der internationalen Arbeiterbewegung gestellt. Die Rostocker Schule, an der er als Lehrer gearbeitet hat, erhält am Tag seiner Beisetzung im Rahmen eines feierlichen Pionierappells den Ehrentitel „Egon-Schultz-Oberschule". In der Folgezeit werden mehr als einhundert Kollektive, Schulen und Institutionen nach Egon Schultz benannt [111] und der ehemalige Lehrer zum Idol eines sozialistischen Kämpfers erhoben. [112] In der Strelitzer Straße, die zum 13. August 1966 in Egon-Schultz-Straße umbenannt wird [113], erinnert seit dem 4. Januar 1965 am Haus Nr. 55 eine Gedenktafel an seinen Tod und prangert die angeblichen West-Berliner Agenten des Meuchelmordes an. Alljährlich wird an diesem Ort wie an vielen anderen Stellen – häufig im Beisein seiner Eltern – des Toten gedacht.
Im Zuge der strafrechtlichen Verfolgung von Gewalttaten an der Grenze werden 1992 Ermittlungen wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung aufgenommen, in deren Verlauf die Rolle aller beteiligten Personen untersucht wird, also auch die der Angehörigen des MfS und der Grenztruppen. [114] In einer groß angelegten Kampagne im „Neuen Deutschland" wird daraufhin für die aus Perspektive der Initiatoren unrechtmäßig verfolgten Grenzsoldaten eine Spendensammlung veranlasst, um ihnen ausgewiesenen Rechtsbeistand zu vermitteln und Prozesskosten begleichen zu können. Die Verwaltung der Spenden in Höhe von fast 200.000 DM obliegt der Gesellschaft für rechtliche und humanitäre Hilfe (GRH), in der sich ehemalige Mitarbeiter des MfS, der Grenztruppen und der SED organisiert haben. [115] Im Ergebnis der Ermittlungen stellt sich zweifelsfrei heraus, dass der Fluchthelfer Christian Zobel zuerst geschossen hat, um sich und Reinhard Furrer der Festnahme zu entziehen. Er verletzte Egon Schultz durch einen Lungensteckschuss. Die tödlichen Schüsse wurden jedoch aus der Kalaschnikow des Grenzsoldaten abgegeben, der auf Weisung des MfS-Offiziers in den dunklen Hof schoss und Egon Schultz dabei versehentlich traf. Er starb an Verblutungen in das Körperinnere. [116] Dem Grenzsoldaten, der die tödlichen Schüsse abgab, wird Notwehr zugebilligt und das Verfahren gegen ihn eingestellt, da er darüber hinaus auf Befehl geschossen habe. [117]
Als Reaktion auf das Ermittlungsverfahren gegen die Grenzer und MfS-Mitarbeiter erfolgt im Mai 1994 eine private Strafanzeige gegen Reinhard Furrer als angeblichen Mörder von Egon Schultz. Der Anklage schließt sich die Mutter von Egon Schultz an, vertreten durch eine renommierte West-Berliner Anwaltskanzlei. Eine weitere Anzeige geht im August bei der Berliner Staatsanwaltschaft ein. [118] Als Reinhard Furrer bei einem Flugunfall im September 1995 ums Leben kommt und sich herausstellt, dass Christian Zobel bereits verstorben ist, wird das Verfahren auf Veranlassung der Anwälte der Mutter von Egon Schultz auf die anderen Fluchthelfer wegen angeblicher Beihilfe zum Mord erweitert. Dieses Verfahren wird im Sommer 1999 eingestellt, „da es sich bei der Schussabgabe des Zobel um eine sogenannte Exzesstat [handelt], die den übrigen Beschuldigten nicht zuzurechnen ist." [119]
Die Umstände, die zum Tod von Egon Schultz geführt haben, polarisieren bis in die Gegenwart. [120] Unumstritten ist jedoch, dass Egon Schultz ein Todesopfer der Mauer ist. Auf der neuen Gedenktafel am Gebäude der Strelitzer Straße 55, die auf Initiative einiger Fluchthelfer und eines Freundes angebracht worden ist, wird Egon Schultz als Maueropfer gewürdigt und die Propaganda-Lüge über seinen Tod aus der Welt geschafft.
Maria Nooke