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Günter Seling: geboren am 28. April 1940, angeschossen am 29. September 1962 an der Berliner Mauer, gestorben am 30. September 1962 an den Folgen der Schussverletzungen (Aufnahmedatum unbekannt)
Günter Seling: Erinnerungsstele am Ufer des Teltowkanals zwischen Zehlendorfer Damm und Paul-Gerhardt-Straße

Günter Seling

geboren am 28. April 1940
angeschossen am 29. September 1962

in Teltow-Seehof
am südwestlichen Außenring

gestorben am 30. September 1962 an den Folgen der Schussverletzungen

Seling, Günter

„Mit militärischen Ehren ist, wie erst jetzt bekannt wurde, am vergangenen Freitag ein Angehöriger der Sowjetzonengrenztruppen auf dem Friedhof Stahnsdorf bei Berlin beigesetzt worden. Der Soldat war von einem Kameraden erschossen worden, der ihn wegen des dichten Nebels für einen Flüchtling gehalten hatte." [21] Mit diesen Worten berichtet im Oktober 1962 „Die Welt" vom Tod eines DDR-Grenzsoldaten. Und auch im „Tagesspiegel" ist zu lesen: „Wie das Informationsbüro West meldet, ist am vergangenen Freitag mit ‚militärischen Ehren’ ein Angehöriger der Sowjetzonen-Grenztruppen auf dem Friedhof in Stahnsdorf bei Berlin beigesetzt worden, der in den frühen Morgenstunden des Dienstags der letzten Woche von einem Streifenkameraden erschossen worden war. Er hatte ihn infolge des dichten Nebels für einen Flüchtling gehalten und niedergeschossen." [22]

Das Opfer ist der 22-jährige Unteroffizier Günter Seling. Geboren am 28. April 1940, stammt er aus Stahnsdorf bei Berlin, wo er bis zu seinem Tod im Hause seiner Eltern wohnte. Seit April 1959 dient Günter Seling in der Nationalen Volksarmee, hat sich noch vor Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in der DDR zum Militärdienst verpflichtet. Zuletzt gehört er der Grenzkompanie Heinersdorf an, die am südlichen Stadtrand, an der Grenze zwischen West-Berlin und Teltow, stationiert ist.

Am 29. September 1962 ist er als Postenführer einer Kontrollstreife eingesetzt. In dieser Funktion nähert er sich, wie aus Grenztruppen-Berichten hervorgeht, gegen 5.00 Uhr morgens dem Postenbereich des Soldaten W. [23] Die Sichtverhältnisse sind schlecht, es herrscht dichter Nebel. Günter Selings Aufgabe ist es, in diesem Abschnitt eine so genannte „Postenkontrolle" durchzuführen, d.h. unangekündigt zu überprüfen, ob sich die eingesetzten Grenzposten den Vorschriften entsprechend verhalten. Als er sich dem Soldaten W. nähert, soll er sich durch Geräusche bemerkbar gemacht haben. Daraufhin lädt der 19-jährige W. seine Maschinenpistole durch, offenbar in der Annahme, dass es sich um einen Flüchtling handelt.

Das weitere Geschehen wird in den überlieferten Berichten mit geringfügigen Abweichungen beschrieben: Im Bericht des Kommandeurs der 2. Grenzbrigade an das für Sicherheitsfragen zuständige SED-Politbüromitglied Erich Honecker heißt es: „Beim Durchladen löste sich eine Feuergarbe von vier Schuss aus der MPi und dabei wurde der Unteroffizier Seling durch einen Schuss in den Kopf schwer verletzt." [24] Demnach hätte sich der Feuerstoß unbeabsichtigt gelöst.

Die Darstellung in einer Meldung der Stadtkommandantur Berlin vom Tag zuvor legt hingegen den Schluss nahe, dass W. gezielt geschossen hat. Darin heißt es, dass W. in dem Moment, als Seling sich näherte, "ohne anzurufen bzw. Warnschuß abzugeben auf ein Geräusch hin vier Schuß Dauerfeuer aus der MPi abgab, dabei wurde der Unteroffizier S. am Kopf schwer verletzt." [25] Günter Seling wird auf dem schnellsten Weg in ein Krankenhaus nach Kleinmachnow gebracht und sofort operiert. Dort erliegt er am frühen Morgen gegen 3.00 Uhr früh seinen Verletzungen.

Während für das Opfer eine Beisetzung „mit allen militärischen Ehren" angeordnet wird, kommt der Soldat W. in Haft und sieht sich militärstaatsanwaltschaftlichen Ermittlungen wegen fahrlässigen Schusswaffengebrauchs ausgesetzt. [26] Wie dieses Verfahren endet, ist nicht überliefert. [27] Auch nach dem Ende der DDR wird von einer strafrechtlichen Verfolgung des Schützen abgesehen. Die Berliner Staatsanwaltschaft, die 1994 Vorermittlungen aufnimmt, sieht „keine Anhaltspunkte für ein vorsätzliches Tötungs- oder Gewaltdelikt" und kommt zu dem Schluss, dass sich die Tat „in rechtlicher Hinsicht lediglich als fahrlässige Tötung" darstellt. [28]

Unabhängig von der Frage nach der individuellen Schuld des Soldaten W. lässt sich jedoch im Rückblick festhalten, dass der Tod von Günter Seling durch die besonderen Verhältnisse an der Grenze und in den DDR-Grenztruppen verursacht worden ist. Er wurde erschossen, weil er irrtümlich für einen Flüchtling gehalten wurde, als er sich einem Grenzposten näherte. Der Druck, so genannte Grenzdurchbrüche nicht zuzulassen und gegebenenfalls mit Waffengewalt zu verhindern, war, wie der Tod von Günter Seling zeigt, so groß, das Grenzposten im Zweifelsfall selbst auf die eigenen Kameraden schossen.

Grenzsoldaten, denen in den 1960er Jahren die Flucht gelang, machen den tödlichen Vorfall, nicht aber die Identität des Opfers im Westen bekannt. Wie sie bezeugen, wurde seinerzeit bei Dienstversammlungen in den benachbarten Grenzkompanien von dem Unglück berichtet. Demnach habe ein Soldat versehentlich einen Unteroffizier erschossen, den er für einen Flüchtling hielt. [29] Aufgrund dieser Zeugenaussagen wird der Todesfall im September 1968 in die Liste „Opfer der Mauer" des West-Berliner Polizeipräsidenten aufgenommen. [30] Im Unterschied zu den anderen getöteten Grenzsoldaten wurde Günter Seling in der DDR nicht öffentlich gedacht; die Umstände seines Todes ließen dies der politischen und militärischen Führung offenbar nicht opportun erscheinen.

Text: Christine Brecht

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