geboren am 28. Januar 1942
ertrunken am 26. November 1961
in der Havel
am Außenring zwischen Sacrow (Kreis Potsdam-Stadt) und Berlin-Zehlendorf
Lehmann, Lothar
Lothar Lehmann ist 19 Jahre alt, als er im November 1961 beim Versuch, nach West-Berlin zu flüchten, ums Leben kommt. Sein Werdegang und die Umstände seines Todes sind nur bruchstückhaft dokumentiert. Amtlichen Überlieferungen zufolge wird er am 28. oder 29. Januar 1942 geboren. Auch über seinen Geburtsort gibt es unterschiedliche Angaben. [27] So bleibt unklar, ob Lothar Lehmann aus Ostpreußen stammt oder in Falkensee geboren wird, einer Gemeinde im Umland von Berlin, die an den West-Berliner Bezirk Spandau grenzt. Dort wächst er in der Obhut von Pflegeltern auf und besucht in den 1950er Jahren die Schule. Nach Abschluss der 8. Klasse erlernt er im VEB Landmaschinenbau Falkensee den Beruf des Schlossers. In seiner Freizeit widmet er sich der Taubenzucht und betreibt Radsport in einer örtlichen Betriebs-Sport-Gemeinschaft. [28]
Im September 1961, wenige Wochen nach dem Mauerbau, beginnt der 19-Jährige seinen Wehrdienst. Zu diesem Zeitpunkt besteht in der DDR noch keine allgemeine Wehrpflicht, so dass die Meldung – formal gesehen – freiwillig ist. Die Realität sieht jedoch in den meisten Fällen anders aus. Denn junge Männer werden mit großem Propagandaaufwand dazu gedrängt, sich zum "Ehrendienst" für das sozialistische Vaterland zu verpflichten. Im Zuge des Mauerbaus wird der Druck noch einmal erheblich erhöht. Unter dem Motto "Das Vaterland ruft! Schützt die sozialistische Republik!" startet die SED-Jugendorganisation FDJ im August 1961 eine landesweite Kampagne. [29] Sie soll dazu beitragen, möglichst viele Jugendliche zu rekrutieren, um die zur "Grenzsicherung" erforderlichen Polizei- und Armeeverbände zu verstärken.
Auch Lothar Lehmann kommt an die Grenze. Er wird der Bereitschaftspolizei Groß Glienicke zugeteilt, die nicht weit von seinem Wohnort Falkensee entfernt außerhalb von Berlin stationiert ist. Seine Einheit gehört zu den so genannten "Grenzbereitschaften", die die Grenze zwischen dem DDR-Bezirk Potsdam und West-Berlin bewachen. Welche Gründe den 19-Jährigen zur Flucht bewegen, ist nicht bekannt. Es scheint aber keineswegs ein spontaner Entschluss gewesen zu sein. Bereits Anfang November gibt er seiner Mutter zu verstehen, dass er in den Westen flüchten will. Während eines Urlaubs fragt er sie beiläufig nach der Anschrift von Verwandten in der Bundesrepublik und fügt hinzu: "Na die werden staunen, wenn ich ankomme." Als sie besorgt darauf hinweist, dass an der Grenze geschossen wird, gibt er sich zuversichtlich und sagt, es werde schon klappen. [30]
Wie Lothar Lehmann entschließen sich in den ersten Wochen und Monaten nach dem Mauerbau viele Polizisten, Soldaten und Wehrpflichtige zur Desertion, obwohl ihnen im Falle einer Festnahme drastische Strafen drohen. [31] Der Einsatz an den Sperranlagen bietet günstige Fluchtgelegenheiten. Außerdem lehnen viele Grenzposten die Verschärfung der Sperrmaßnahmen ab und haben Angst, dass sie eines Tages selbst auf Flüchtlinge schießen müssen. Täglich melden sich in diesen Tagen fahnenflüchtige DDR-Grenzer bei den West-Berliner Behörden. [32] Lothar Lehmann hat indes kein Glück. Ohne in West-Berlin überhaupt bemerkt zu werden, endet sein Fluchtversuch tödlich.
Ort des Geschehens ist die am Ufer der Havel gelegene Gemeinde Sacrow bei Potsdam, eine Gegend, die Lothar Lehmann von seinen Trainingsfahrten als Radsportler gut kennt. [33] Die Grenze zum West-Berliner Bezirk Zehlendorf verläuft in der Mitte des Flusses. Am 26. November 1961 muss der Wehrdienstleistende als Angehöriger der Bootsgruppe seiner Einheit am Sacrower Havelufer Boote ausbessern. Gegen Abend nutzt er einen unbeobachteten Moment und steigt mit einer Schwimmweste ausgerüstet in den Fluss, um an das gegenüberliegenden Ufer zu schwimmen. Doch das Wasser ist um diese Jahreszeit offenbar so kalt, dass er einen Kälteschock erleidet und das Bewusstsein verliert. In diesem Zustand wird er von Grenzposten entdeckt, aus dem Wasser gezogen und in das Bezirkskrankenhaus Potsdam gebracht. Auf dem Weg dorthin verstirbt Lothar Lehmann einem Bericht der Ost-Berliner Stadtkommandantur zufolge "gegen 21.00 Uhr trotz Wiederbelebungsversuchen und ohne äußere Einflüsse bei der Festnahme und beim Transport." [34] Die anschließende Obduktion ergibt, dass "mittelbares Ertrinken, ausgelöst durch Kälteschock und Kreislaufkollaps" die Todesursache war. [35]
Ermittlungen, die im Zuge der strafrechtlichen Verfolgung von DDR-Unrecht in den 1990er Jahren angestellt werden, bestätigen diesen Sachverhalt. [36] Die Eltern von Lothar Lehmann erfahren, wie seine Mutter 1992 zu Protokoll gibt, noch am gleichen Abend durch Angehörige der Grenzpolizei, dass ihr Sohn beim Versuch der Fahnenflucht ertrunken sei. [37] In den folgenden Tagen müssen sie in Befragungen, die darauf zielen, seine Fluchtmotive und Fluchtpläne aufzudecken, erleben, wie ihr ertrunkener Sohn als Verbrecher hingestellt wird. Dass sie von seinem Vorhaben wusste, gibt die Mutter aus Angst, sich dadurch der Beihilfe zur "Republikflucht" verdächtig zu machen, nicht preis. Die DDR-Behörden wiederum verlangen von den Eltern, dass sie den Fluchtversuch gegenüber Außenstehenden verschweigen. Bei der Beerdigung, die auf dem Städtischen Friedhof von Falkensee stattfindet, darf daher lediglich von einem Unglücksfall die Rede sein.
Lothar Lehmanns Freund Wolfgang S. fällt es jedoch schwer, die offizielle Lesart zu glauben. Zumal im Dorf hinter vorgehaltener Hand anders lautende Vermutungen die Runde machen. Um der Sache auf den Grund zu gehen, verwickelt er eigenen Angaben zufolge zwei Offiziere der Grenzpolizei ins Gespräch. Dabei erfährt er, "dass der Lothar flüchten wollte, und dass er dabei mit einer Schwimmweste ins Wasser gegangen sei. Dabei sei er umgekommen, sagte man mir weiter. Als ich noch Fragen hinsichtlich des Vorfalls stellte, wich man mir aus." [38] Daraufhin hört er sich unter den Bewohnern von Sacrow um und kann auch die Unglücksstelle in Erfahrung bringen. Als Wolfgang S. im Januar 1962 die Flucht nach West-Berlin gelingt, übermittelt er sein Wissen über den Tod des Freundes den dortigen Behörden. Seither wird Lothar Lehmann im Westen auf amtlichen und veröffentlichten Listen als Opfer der Mauer genannt. [39]
Text: Christine Brecht
Auch Lothar Lehmann kommt an die Grenze. Er wird der Bereitschaftspolizei Groß Glienicke zugeteilt, die nicht weit von seinem Wohnort Falkensee entfernt außerhalb von Berlin stationiert ist. Seine Einheit gehört zu den so genannten "Grenzbereitschaften", die die Grenze zwischen dem DDR-Bezirk Potsdam und West-Berlin bewachen. Welche Gründe den 19-Jährigen zur Flucht bewegen, ist nicht bekannt. Es scheint aber keineswegs ein spontaner Entschluss gewesen zu sein. Bereits Anfang November gibt er seiner Mutter zu verstehen, dass er in den Westen flüchten will. Während eines Urlaubs fragt er sie beiläufig nach der Anschrift von Verwandten in der Bundesrepublik und fügt hinzu: "Na die werden staunen, wenn ich ankomme." Als sie besorgt darauf hinweist, dass an der Grenze geschossen wird, gibt er sich zuversichtlich und sagt, es werde schon klappen. [30]
Wie Lothar Lehmann entschließen sich in den ersten Wochen und Monaten nach dem Mauerbau viele Polizisten, Soldaten und Wehrpflichtige zur Desertion, obwohl ihnen im Falle einer Festnahme drastische Strafen drohen. [31] Der Einsatz an den Sperranlagen bietet günstige Fluchtgelegenheiten. Außerdem lehnen viele Grenzposten die Verschärfung der Sperrmaßnahmen ab und haben Angst, dass sie eines Tages selbst auf Flüchtlinge schießen müssen. Täglich melden sich in diesen Tagen fahnenflüchtige DDR-Grenzer bei den West-Berliner Behörden. [32] Lothar Lehmann hat indes kein Glück. Ohne in West-Berlin überhaupt bemerkt zu werden, endet sein Fluchtversuch tödlich.
Ort des Geschehens ist die am Ufer der Havel gelegene Gemeinde Sacrow bei Potsdam, eine Gegend, die Lothar Lehmann von seinen Trainingsfahrten als Radsportler gut kennt. [33] Die Grenze zum West-Berliner Bezirk Zehlendorf verläuft in der Mitte des Flusses. Am 26. November 1961 muss der Wehrdienstleistende als Angehöriger der Bootsgruppe seiner Einheit am Sacrower Havelufer Boote ausbessern. Gegen Abend nutzt er einen unbeobachteten Moment und steigt mit einer Schwimmweste ausgerüstet in den Fluss, um an das gegenüberliegenden Ufer zu schwimmen. Doch das Wasser ist um diese Jahreszeit offenbar so kalt, dass er einen Kälteschock erleidet und das Bewusstsein verliert. In diesem Zustand wird er von Grenzposten entdeckt, aus dem Wasser gezogen und in das Bezirkskrankenhaus Potsdam gebracht. Auf dem Weg dorthin verstirbt Lothar Lehmann einem Bericht der Ost-Berliner Stadtkommandantur zufolge "gegen 21.00 Uhr trotz Wiederbelebungsversuchen und ohne äußere Einflüsse bei der Festnahme und beim Transport." [34] Die anschließende Obduktion ergibt, dass "mittelbares Ertrinken, ausgelöst durch Kälteschock und Kreislaufkollaps" die Todesursache war. [35]
Ermittlungen, die im Zuge der strafrechtlichen Verfolgung von DDR-Unrecht in den 1990er Jahren angestellt werden, bestätigen diesen Sachverhalt. [36] Die Eltern von Lothar Lehmann erfahren, wie seine Mutter 1992 zu Protokoll gibt, noch am gleichen Abend durch Angehörige der Grenzpolizei, dass ihr Sohn beim Versuch der Fahnenflucht ertrunken sei. [37] In den folgenden Tagen müssen sie in Befragungen, die darauf zielen, seine Fluchtmotive und Fluchtpläne aufzudecken, erleben, wie ihr ertrunkener Sohn als Verbrecher hingestellt wird. Dass sie von seinem Vorhaben wusste, gibt die Mutter aus Angst, sich dadurch der Beihilfe zur "Republikflucht" verdächtig zu machen, nicht preis. Die DDR-Behörden wiederum verlangen von den Eltern, dass sie den Fluchtversuch gegenüber Außenstehenden verschweigen. Bei der Beerdigung, die auf dem Städtischen Friedhof von Falkensee stattfindet, darf daher lediglich von einem Unglücksfall die Rede sein.
Lothar Lehmanns Freund Wolfgang S. fällt es jedoch schwer, die offizielle Lesart zu glauben. Zumal im Dorf hinter vorgehaltener Hand anders lautende Vermutungen die Runde machen. Um der Sache auf den Grund zu gehen, verwickelt er eigenen Angaben zufolge zwei Offiziere der Grenzpolizei ins Gespräch. Dabei erfährt er, "dass der Lothar flüchten wollte, und dass er dabei mit einer Schwimmweste ins Wasser gegangen sei. Dabei sei er umgekommen, sagte man mir weiter. Als ich noch Fragen hinsichtlich des Vorfalls stellte, wich man mir aus." [38] Daraufhin hört er sich unter den Bewohnern von Sacrow um und kann auch die Unglücksstelle in Erfahrung bringen. Als Wolfgang S. im Januar 1962 die Flucht nach West-Berlin gelingt, übermittelt er sein Wissen über den Tod des Freundes den dortigen Behörden. Seither wird Lothar Lehmann im Westen auf amtlichen und veröffentlichten Listen als Opfer der Mauer genannt. [39]
Text: Christine Brecht