Todesopfer > Schultz, Paul

Bericht des NVA-Stadtkommandanten Poppe an Erich Honecker über den Fluchtversuch von Paul Schultz

27. Dezember 1963

Betr.: Grenzdurchbruch im Abschnitt des GR-35

Werter Genosse Honecker!

Am 25.12.1963 gegen 16.30 Uhr erfolgte im Abschnitt der 3./GR-35 aus Richtung Melchiorstraße durch 2 männliche Personen im Alter von ca. 18 Jahfen ein Grenzdurchbruch nach Westberlin.

Trotz Anwendung der Schußwaffe gelang es den Grenzverletzern, ihr Vorhaben durchzuführen.

Zur Zeit des Vorkommnisses befand sich der Zugführer des 2. Zuges der 4. GK, Unterltn. (...), mit einem Begleitposten an der Naht zur 3. GK, um das Zusammenwirken beider zur Grenzsicherung eingesetzten Züge der Grenzkompanien zu präzisieren.

Dabei stellte der Zugführer fest, daß die Täter den Maschendrahtzaun der rückwärtigen Begrenzung der Melchiorstraße überstiegen und in Richtung Staatsgrenze weiterliefen.

Daraufhin verfolgte Ultn. M. mit dem Begleitposten die Grenzverletzer und gab, als diese den 2. Zaun überwanden, sich auf dem Kontrollstreifen bewegten sowie Anstalten machten, die Mauer der GSA zu übersteigen, aus seiner Pistole 7 Schuß auf die Grenzverletzer ab.

Vom Begleitposten wurden ebenfalls 5 Schuß Einzelfeuer aus der MPi abgegeben.

Eine Trefferwirkung und der weitere Weg der Grenzverletzer konnten nicht festgestellt werden, da die Einsicht in das Westberliner Gebiet an der Stelle des Grenzdurchbruches ungünstig ist.

Nachträglich wurde bekannt, daß ein Grenzverletzer an den Folgen der Schußverletzungen verstorben ist.

Kurze Zeit nach diesem Vorfall erschienen an der Durchbruchstelle Angehörige der Duepo und Fotoreporter, welche Aufnahmen tätigten.

Schlußfolgerungen:
    1. Unterleutnant M(...) und Unteroffizier E(...) haben nach meiner Einschätzung durch die konsequente Anwendung der Schußwaffe richtig gehandelt. Die konkreten Bedingungen im Raum des Durchbruchs engen, da wenig Tiefe vorhanden ist, das Manöver ein und lassen Umgehungen und andere Methoden der Festnahmen kaum zu.

    2. Unterleutnant M(...) und Unteroffizier E(...) stehen fest zu ihrer Tat. Auf meine Frage: "Möchten Sie aus Sicherheitsgründen aus dem Abschnitt versetzt werden?" antwortete Unterleutnant M(...): "Meinen Zug lasse ich nicht im Stich!" Unteroffizier E(...) antwortete mir: "Ich bin Parteigruppenorganisator und werde auch weiterhin meine Pflicht erfüllen."

    3. Der Grenzdurchbruch wurde begünstigt durch die nicht richtige Erfüllung des gegebenen Befehls der Nachbarkompanie (3. Kompanie), in welchem festgelegt war, mit Einbruch der Dunkelheit den B-Turm Melchiorstraße zu besetzen.
Am 27.12.1963 habe ich persönlich mit beiden Armeeangehörigen eine Aussprache geführt und sie für ihre konsequenten Handlungen mit einer Aktentasche bzw. Armbanduhr ausgezeichnet, ohne darüber einen Befehl für das Gesamtbereich zu erlassen.

Maßnahmen:
    1. Der Regimentskommandeur und der Kommandeur der Brigade wurden von mir beauftragt, in Zukunft entstandene Situationen konkreter und den Bedingungen der Lage entsprechend einzuschätzen.

    2. Durch die Politische Verwaltung der Stadtkommandantur wurde eine Argumentation für die mündliche Agitation in den Brigaden herausgegeben.

    3. Bei der mit den Brigadekommandeuren am 27.12.1963 durchgeführten Kommandeursbesprechung habe ich dieses Vorkommnis bereits ausgewertet.

    4. In Auswertung der völlig ungenügenden Erfüllung der Meldepflicht im Resultat einer konkreten Einschätzung der Lage besonders gegenüber der Parteiführung werden die dafür verantwortlichen Offiziere am 30.12.1963 disziplinar zur Verantwortung gezogen. Darüber hinaus sind Maßnahmen eingeleitet, daß in Zukunft ähnliche Verzögerungen in der Meldepflicht unterbunden werden.
Ich reiche diesem Bericht nach, weil ich – nach dem ich mich selbst mit den Umständen befaßt habe – die Schlußfolgerungen in der Sofortmeldung nicht anerkennen kann.

Ich bitte um Kenntnisnahme.

- Generalmajor - Poppe

Quelle: BArch, VA-07/6003, Bl. 6-8
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