Todesopfer > Kiebler, Herbert

Urteil des Landgerichts Potsdam in der Strafsache gegen Eberhard B. und Joachim J. vom 22. Mai 2001

Auszüge, Az. 21 Ks 20/00; Fall Herbert Kiebler, erschossen an der Berliner Mauer

Abschrift [Auszug]

Landgericht Potsdam Az.: 21 Ks 20/00

22. Mai 2001

URTEIL

Im Namen des Volkes

In der Strafsache
    1. Eberhard Herbert B.,
    geb. 1946

    2. Joachim J.,
    geb. 1954
wegen Totschlags

hat die 1. Strafkammer des Landgerichts Potsdam - Schwurgericht - [...] für Recht erkannt:

Der Angeklagte J. wird wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird.

Der Angeklagte B. wird wegen Beihilfe zum Totschlag zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird.

Die Angeklagten haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Angewandte Vorschriften:
bezüglich des Angeklagten J.: §§ 112, 113, 22 Abs. 1 StGB/DDR i.V.m.
§§ 315 EGStGB, 212 Abs. 1, 25 Abs. 1 StGB.
bezüglich des Angeklagten B.: §§ 112, 113, 22 Abs. 2 Ziff. 1 StGB/DDR i.V.m.
§§ 315 EGStGB, 212 Abs. 1, 27 StGB

Gründe

[...]

III. [Beweiswürdigung]

[...]

6. Dass die vom Angeklagten J. abgegebenen gezielten Schüsse auf den Flüchtling geeignet waren, diesen zu töten, ergibt sich nach Auffassung der Kammer aus dem Umstand, dass es auf eine solche Entfernung bei einem sich bewegenden Ziel mit einer Kalaschnikow in der Stellung "Dauerfeuer" nicht möglich ist, genau zu treffen, da diese Waffe dazu neigt, beim Schießen mit Dauerfeuer wegzuziehen. Diese Eigenschaft der Waffe hat der Angeklagte J. selbst eingeräumt und ist der Kammer zudem aus früheren Gerichtsverfahren bekannt. Der Angeklagte J., der nach eigenen Angaben an der Waffe ausgebildet worden war, hat demnach auch um dieses besondere Risiko gewusst.

Dass der Angeklagte den Tod des Flüchtenden bei der Schussabgabe billigend in Kauf genommen hat, ergibt sich aus dem Umstand, dass er trotz des ihm bekannten Risikos eines tödlichen Treffers auf Herbert Kiebler geschossen hat. Für ihn war es wichtiger, den Befehlen nachzukommen und die Flucht des späteren Opfers zu verhindern, als dessen Leben zu verschonen. Hätte der Angeklagte das Leben des Herbert Kiebler schonen wollen, hätte er nur zusammen mit seinem Fahrer vorgehen und den Flüchtling festnehmen zu brauchen. Denn dass angesichts der noch vor dem Flüchtling liegenden, ohne Hilfsmittel nicht zu überwindenden Mauer kein Anlass zum Schießen bestand, sondern eine Festnahme ohne weiteres möglich gewesen wäre, haben sowohl der Angeklagte J. als auch der Zeuge P. eingeräumt. Dass der Angeklagte sich etwa wegen des von Herbert Kiebler in einer Lederscheide am Hosengürtel mitgeführten Messers an einer Festnahme gehindert sah, hat der Angeklagte selbst nicht behauptet und ist dies auch nicht anzunehmen. Selbst wenn der Angeklagte - anders als der Zeuge P., der dies ausdrücklich verneinte - auf die Entfernung das Messer bei dem Flüchtenden gesehen haben sollte, hätte dies einer Festnahme schon aufgrund der drückenden Waffen Überlegenheit des Angeklagten und seines Fahrers nicht im Wege gestanden. Darüber hinaus steht jedenfalls fest, dass das Opfer Kiebler mit dem Messer keine Drohgebärden in Richtung der Grenzsoldaten gemacht oder gar einen Angriff auf diese versucht hätte; vielmehr wollte er sich aus dem Graben in Richtung Mauer fortbewegen, also seine - mittlerweile ausweglose - Flucht fortsetzen und bedrohte also gerade nicht den Angeklagten und den Zeugen P.

[...]

IV. [Rechtliche Würdigung]

1. Der Angeklagte J. ist dadurch, dass er auf Herbert Kiebler schoss, dabei dessen Tod zumindest billigend in Kauf nahm und ihn durch einen der abgegebenen Schüsse auch tötete, eines Totschlags gemäß § 212 Abs. 1 StGB schuldig. Die Anwendung des bundesdeutschen StGB ergibt sich gemäß den Art. 315 Abs. 1 EGStGB, § 2 Abs. 3 StGB daraus, dass dieses Gesetz die gegenüber dem zur Tatzeit geltenden DDR-Recht mildere Norm darstellt.

[...]

2. Der Angeklagte B. hat sich dadurch, indem er am Tattag dem Angeklagten J. den Einsatzbefehl mit dem Inhalt erteilte, Grenzverletzungen zu verhindern, und dadurch dessen Entschluss, auf einen Grenzverletzer mit bedingtem Tötungsvorsatz zu schießen, wissentlich und in Kauf nehmend förderte, einer Beihilfe zum Totschlag gemäß den §§ 27 Abs. 1, 212 Abs. 1 StGB schuldig gemacht.

Quelle: StA Neuruppin, Az. 361 Js 14783/99, Bd.4, Bl.130-164.
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