Todesopfer > Jirkowsky, Marienetta

MfS-Bericht über den Fluchtversuch und die Erschießung von Marienetta Jirkowsky

22. November 1980

Bericht über das Vorkommnis an der Staatsgrenze am 22. November 1980 im Raum Hohen Neuendorf mit Schußwaffenanwendung

Am 22. November 1980 um 3.25 Uhr wurden durch die im Planquadrat 3884/8 c eingesetzten Sicherungskräfte des Grenzregimentes 38 zwischen der Hinterlandssicherungsmauer und dem Signalzaun im Handlungsstreifen der Grenztruppen Geräusche festgestellt, deren Ursachen zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkennbar waren. Der Postenführer, Gefreiter (...) hat diese Feststellung sofort telefonisch dem Operativen Diensthabenden des Grenzregimentes 38, Major (...) gemeldet.

Noch während dieses Telefonats erfolgte um 3.30 Uhr eine Auslösung des Signalzaunes, so daß sich der Postenführer, ohne die Reaktion des Operativen Diensthabenden abzuwarten, zum Handeln veranlaßt sah und das Gespräch abbrach. Er hatte zu diesem Zeitpunkt silhouettenhaft eine Person wahrgenommen, die sich mit schnellen Schritten in Richtung Sperrmauer bewegte.

Auf den Anruf des Postenführers reagierte der Grenzverletzer nicht. Auch der daraufhin vom Postenführer abgegebene Warnschuß fand keine entsprechende Beachtung. Die Person versuchte, die Sperrmauer zu überwinden. Gefreiter (...) sowie die Besatzung des vom Tatort 200 Meter entfernten Beobachtungsturmes, Gefreiter (...) und Soldat (...), die den Warnschuß und inzwischen ebenfalls die Personenbewegung wahrgenommen hatten, eröffneten gezieltes Feuer. Es wurden insgesamt 27 Schuß abgegeben. Infolge Schußwirkung fiel der Grenzverletzer, der die Berohrung der Sperrmauer (obere Begrenzung der Anlage) bereits erfaßt hatte, herab.

Die Schußentfernung des Postenführers (Gefr. (...)) betrug, da aus der Bewegung heraus gefeuert worden ist, etwa 70 bis 100 Meter.

Nach Feuerstellung begab sich Gefr. (...) zum Verletzten und führte mit Hilfe des ihm zugeteilten Postens, Soldat (...) sowie unter Deckung mittels eines Pkw-Kübel gegen eventuelle Feindeinsicht dessen Rücktransport in das Hinterland (Kolonnenweg) durch und ließ einen Notverband an der äußerlich erkennbaren schußverletzten Körperstelle (rechte Nierengegend) anlegen.

Unmittelbar danach erschien der herbeibeorderte Regimentsarzt des GR 38, Oberstleutnant (...), der nach weiterer medizinischer Hilfe den Abtransport mittels Sanitätskraftwagen des Regimentes sowie die Einlieferung in das Krankenhaus Hennigsdorf, die um 4.30 Uhr erfolgte, vornahm.

Bei dem Grenzverletzer handelt es sich um
    Jirkowsky, Marienetta
    geb. am 25.8.1962 in Bad Saarow
    wh. in Spreehagen, (...)
    (Nebenwohnung: Fürstenwalde, Lehrlingswohnheim Beeskower Chaussee)
    ledig
    Lehrling im VE Reifenkombinat Fürstenwalde

    bisher operativ nicht angefallen
Die J. entstammt einer Arbeiterfamilie, die als politisch loyal eingeschätzt wird.

[...]

Trotz sofortiger Operation und anschließender Intensivbehandlung verstarb die Jirkowsky am 22.11.1980 um 11.30 Uhr.

Die Tatortuntersuchung, einschließlich Fährtenhundeinsatz, hat ergeben, daß sich die Jirkowsky und, hergeleitet von gesicherten Schuhabdruckspuren, zwei männliche Personen im Handlungsstreifen in Richtung der Sperrmauer bewegt haben. Die Spurenlage läßt erkennen, daß sich die Grenzverletzer vom Bahnhof Hohen Neuendorf aus in Richtung der Grenzsicherungsanlagen über baumbestandene Grundstücke (überwiegend Einfamilienhäuser mit Gartenanlagen) im Bereich der Berliner Straße und Florastraße in Hohen Neuendorf bis an die Hinterlandssicherungsmauer begeben und diese unter Verwendung des Tritteiles einer Stehleiter von 1,60 m Länge, die sie zerlegt hatten, überwunden haben. Dieses Leiterteil ließen sie dort stehen und führten auf dem weiteren Weg das Stützteil der Leiter und außerdem eine sogenannte Bockleiter (2 Meter lang) mit. Die Bockleiter diente ihnen zum Übersteigen des Signalzaunes.

Da nach Aussagen der eingesetzten Posten der Grenztruppen der Signalzaun erst beim Übersteigen der Jirkowsky auslöste, kann geschlußfolgert werden, daß die Funktionsfähigkeit der Signaleinrichtung nicht voll gegeben war.

Die zwei männlichen Täter haben dann den Stützteil der Stehleiter zur Überwindung der Sperrmauer in Richtung Westberlin benutzt.

Die genannten Gegenstände wurden sichergestellt. Während die Herkunft der Bockleiter ungeklärt ist, wurde die Stehleiter vom Grundstück des Eigentümers (...), Hohen Neuendorf, Florastraße, unter Aufbruch des Befestigungsschlosses entwendet.

Eine Rückbewegung von Personen in das Hinterland wird aufgrund der Spurenlage ausgeschlossen.

Am 22.11.1980 gegen 4.00 Uhr wurden ein Pkw der französischen Besatzungstruppen sowie ein VW-Bus der Westberliner Polizei auf Westberliner Seite im Bereich Invalidensiedlung festgestellt, wo einzelne Mitglieder dieser Fahrzeugbesatzungen vermutlich versuchten, bei Anwohnern Erkundigungen über das Ereignis einzuholen.

Im Zusammenarbeit mit der BVfS Frankfurt/O. wurde ermittelt, daß es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit bei einem der männlichen Grenzverletzer (eine Bestätigung liegt dazu noch nicht vor) um
    (...)
    geb. am (...) 1956 in (...)
    wh.: in Bad Saarow, (...)
    Arbeiter bei der GHG (...)
    geschieden
    (...)
handelt. (...) ist der Freund der Jirkowsky.

Laut Mitteilung der BKG der BVfS Frankfurt/O. hat die Kreisdienststelle Fürstenwalde am 21.11.1980 gegen 17.30 Uhr durch einen IM-Vorlauf eine Information erhalten, derzufolge (...) diesem am Nachmittag des 21.11.1980 mitgeteilt habe, er beabsichtige, a, 23.11.1980 mittels einer 2 Meter langen Leiter die Staatsgrenze der DDR zu durchbrechen.

Die sofort eingeleitete Aufenthaltsermittlung der KD Fürstenwalde nach (...) war erfolglos.

Die Ermittlungen der BVfS Frankfurt/O. zur Feststellung einer zweiten am Grenzdurchbruch beteiligten männlichen Person führten bisher zu keinem Ergebnis.

In Auswertung des Vorkommnisses wurden nachfolgende Maßnahmen eingeleitet:
    1. Am 22.11. und 23.11.1980 wurden durch leitende Kader der KD, der VPKA und der Grenzregimenter in allen Grenzkreisen nochmalige Kontrollen mit der Zielstellung durchgeführt, die Wirksamkeit der Sicherung der Schwerpunktbereiche im Grenzgebiet sowie grenznahen Hinterland zu überprüfen und umgehend Entscheidungen zur Beseitigung festgestellter Sicherungslücken bzw. begünstigender Bedingungen zu treffen.

    2. Die Leiter der operativen DE wurden nochmals angewiesen, alle operativen Materialien und Informationen zu Vorhaben des ungesetzlichen Verlassens der DDR auf operativ relevante Hinweise zu beabsichtigten Grenzdurchbrüchen hin zu überprüfen und in Abstimmung mit der Abt. VII, IX und der BKG Sofortmaßnahmen zu ihrer vorbeugenden Verhinderung zu treffen. Eine umfassende Auswertung dieses und weiterer Vorkommnisse wird auf der Dienstkonferenz am 17.12.1980 mit allen DE-Leitern vorgenommen.

    3. Durch den Chef der BDVP wurde der Einsatz zusätzlicher Kräfte aus dem Bestand der VP-Schule Potsdam zur Verstärkung der Hinterlandsicherung in besonders gefährdeten Bereichen der Kreise Oranienburg (Hohen Neuendorf) und Nauen (Falkenhöh) angewiesen. Der Einsatz beginnt jeweils mit Einbruch der Dunkelheit und endet bei Tagesanbruch. Er wurde zunächst begrenzt auf den Zeitraum vom 22.11. bis 26.11.1980. (Diese Festlegung erfolgte trotz der bereits am 19.11.1980 vorgenommenen Verdopplung der VP-Streifentätigkeit im Bereich des Tatortes Hohen Neuendorf – S-Bahnbogen.)

    Aufgrund der bestehenden Kräftesituation ist – in Abstimmung zwischen den Leitern der Organe des Zusammenwirkens – vorgesehen, daß der Chef der BDVp entsprechende Vorschläge zur grundsätzlichen Lösung der Probleme der Hinterlandsicherung dem Minister des Innern unterbreitet.

    4. Ab sofort werden durch Kräfte der DVP (einschließlich freiwillige Helfer) verstärkte Hinterlandkontrollen in nachfolgenden Schwerpunktbereichen der Staatsgrenze vorgenommen:
      Kreis Oranienburg – Hohen Neuendorf und Stolpe (Güst)

      Kreis Nauen – Falkenhöh

      Kreis Potsdam – Teltowkanal, Teltow-Seehof, Babelsberg
    5. Durch Kräfte der Grenztruppen, der DVP und der KD wurden am 22.11. und am 23.11.1980 in allen gefährdeten Grenzabschnitten nochmalige "Tunnelkontrollen" durchgeführt. Ab sofort werden diese Kontrollen, nicht wie bisher wöchentlich, sondern bis auf Widerruf 2tägig vorgenommen.

    6. Einflußnahme auf das durch medizinische Maßnahmen mit dem Vorkommnis konfrontierte Personal des Kreiskrankenhauses Hennigsdorf zur strikten Einhaltung der Schweigepflicht. Durch den (...), Gen. Dr. (...) wurde zugesichert, ein Hinaustragen von Informationen zum Vorkommnis in die Öffentlichkeit zu verhindern.
Leibholz
Generalmajor

Quelle: BStU, MfS, Sekr. Neiber Nr. 263, Bl. 137-142
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