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Chris Gueffroy: Bericht des West-Korrespondenten Karl-Heinz Baum über die Beerdigung

24. Februar 1989

Abschrift

Karl-Heinz Baum

Von der stillen Grenze in ein stilles Grab


„14 Uhr, Chris Gueffroy, U-Beisetzung", stand am Donnerstag am Eingang der Begräbnishalle am Friedhof Baumschulenweg in Ost-Berlin. Das „große U" steht für Urne. Drei Minuten nach zwei Uhr bat der, wie es in der DDR offiziell heißt, Begräbnisredner, die Trauergemeinde in den Trauerraum der Friedhofshalle, die mit einer Kirche sehr viel Ähnlichkeit hat. Der Tote, der an diesem Nachmittag beerdigt wurde, verlor sein Leben im Alter von 20 Jahren am 6. Februar bei einem Fluchtversuch an der Mauer, wie Angehörige bestätigten. „Wir trauern in unendlichem Schmerz und voller Liebe um Chris Gueffroy, der durch einen tragischen Unglücksfall von uns gegangen ist", hatte am Dienstag in der Todesanzeige der Ost-Berliner „Berliner Zeitung", dem SED-Organ in der östlichen Hälfte der Stadt, gestanden.

Das Wort vom „tragischen Unglücksfall" benutzte auch der Begräbnisredner, von Schüssen an der Mauer fiel bei der Totenfeier kein Wort. Doch schon die Beobachtung der Beerdigung durch DDR-Staatssicherheitskräfte machte deutlich, daß es sich nicht um ein ganz gewöhnliches Begräbnis handelte. Sicherheitskräfte in Zivil kontrollierten bei einigen Trauergästen die Ausweise. Unter den 120 Trauernden waren auch einige, die, wie einer sagte, aus „Solidarität" gekommen waren und - wie ein anderer meinte - „weil man nur so in der DDR demonstrieren kann".

„Vielleicht wäre ich noch einmal Weltmeister geworden", so gab der Begräbnisredner einen Wunsch des Toten wieder, der lange Jahre beim Ost-Berliner Polizeisportverein „Dynamo" (Vorsitzender ist der 81jährige DDR-Staatssicherheitsminister Erich Mielke) geturnt hatte. Zuletzt hatte er als Kellner in einem Cafe in den Rathauspassagen im Ost-Berliner Stadtzentrum gearbeitet. Im Flughafen-Restaurant Schönefeld bei Berlin war er ausgebildet worden.

„Die Jugend macht keine Konzessionen", bemühte der Redner den deutschen Romantiker Josef Freiherr von Eichendorff Chris Gueffroy habe alles oder nichts gewollt, habe nur ein „entweder oder" gekannt, fügte er in der Trauerrede hinzu. Dann schilderte er den jungen Mann, der in Pasewalk (Bezirk Neubrandenburg) geboren wurde und im Alter von fünf Jahren nach Berlin kam, als heiteren und ungezwungenen Menschen, der sich immer um Gerechtigkeit bemüht habe.

Vielleicht wäre alles anders gekommen, gab der Redner zu bedenken, wenn Chris mehr Bedächtigkeit gehabt hätte, aber auch die Möglichkeit zur Aussprache. Ein Hinweis auf nicht ganz heile Familienverhältnisse, die sich wohl auch darin zeigen, daß der junge Mann jahrelang im Internat des Dynamo-Sportclubs verbrachte, ehe er mit seinem jüngeren Bruder zusammenzog.

In das Urnengrab Nr. 552 auf dem neuen Teil des Friedhofs haben Trauergäste Briefe und Zettel gelegt, die vielleicht mehr Aufschluß geben könnten, die nun aber die Erde bedeckt. Besonders schwer fiel der Abschied dem Bruder Stefan, aber auch die Cousinen Heike und Saski weinten fast ununterbrochen. Das ehemalige Lehrlingskollektiv legte ein Gebinde neben dem mit Blumen und Kränzen umrahmten Urnengrab nieder.

Die DDR hat bisher nicht offiziell zugegeben, daß Schüsse an der Mauer das junge Menschenleben ausgelöscht haben. „Nicht konkret" habe sich der DDR-Staatsratsvorsitzende und SED-Generalsekretär zu den Umständen des Fluchtversuches geäußert, sagte am Donnerstagnachmittag der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth nach einem einstündigen Gespräch mit Erich Honecker.

Späth zufolge hat Honecker daraufhingewiesen, daß er den Vorfall habe überprüfen lassen. Zudem habe Honecker erklärt, daß es laut einer Äußerung des DDR-Verteidigungsministers Heinz Kessler einen Schießbefehl nicht gebe. Wenige Tage vor den Schüssen am 6. Februar hatte Honecker im Gespräch mit dem schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Björn Engholm daraufhingewiesen, daß es an der Grenze „still" sei. Sehr „still" war es auch in der Begräbnishalle.

Quelle: Frankfurter Rundschau, 24.2.1989; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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