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Willi Richter: Die Lage der Arbeitnehmer in der Sowjetzone. Das Arbeitsgesetzbuch – eine Provokation aller freien Menschen, 29. April 1961

Die Lage der Arbeitnehmer in der Sowjetzone.


Das Arbeitsgesetzbuch – eine Provokation aller freien Menschen, 29. April 1961



Von Willi Richter, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes

Willi Richter: Die Lage der Arbeitnehmer in der Sowjetzone. Das Arbeitsgesetzbuch – eine Provokation aller freien Menschen, 29. April 1961

Wer zeigte im Juni 1953 den Mut und die Entschlossenheit, gegen das kommunistische Terrorregime vorzugehen und das Signal für jene Erhebung zu geben, die sich zu einer allgemeinen Revolution in Mitteldeutschland ausweitete? Es waren die Bauarbeiter der Stalinallee und die Arbeiter der Hennigsdorfer Stahlwerke, die die Arbeitnehmer Ost-Berlins Und Mitteldeutschlands durch ihr Beispiel mitrissen. Sie straften jene kommunistischen Propagandathesen Lügen, die das Ulbrichtsche Gewaltsystem als „Arbeiter- und Bauern-Staat" priesen. Sie führten der Weltöffentlichkeit die brutale Wahrheit vor Augen, daß dieses Regime gerade jene Bevölkerungsschicht am stärksten unterdrückt und ausbeutet, in deren Interesse es angeblich die Herrschaft über Mitteldeutschland angetreten hat.

Wenn wir im nächsten Monat wieder den 17. Juni als „Tag der Einheit" und als Nationalfeiertag des deutschen Volkes begehen, dann ist es unsere Pflicht, einmal darüber nachzudenken in welcher Situation sich heute jene Menschen befinden, die vor acht Jahren gegen die Unterdrückung aufstanden. Wir müssen die erschütternde Feststellung machen, daß sich die Lage dieser Bevölkerungsschicht, nämlich der Arbeitnehmer Mitteldeutschlands, gerade in letzter Zeit erheblich verschlechtert hat. Nachdem die Zonenmachthaber in den ersten Jahren nach dem Aufstand des 17. Juni 1953 gezwungen waren, die Zügel etwas lockerer zu lassen, haben sie nach dem 5. Parteitag der SED im Juli 1958 alles getan, um die Arbeiter erneut unter ihre Knute zu beugen. Dabei ging es der SED um zwei Dinge: Die Festigung ihres Systems und die Erfüllung ihrer ehrgeizigen Wirtschaftspläne. Beide Vorhaben richten sich in erster Linie gegen die Arbeiter. Ihre Rechte werden weiter geschmälert, und die Normenschraube wird ständig erhöht, ohne daß sie am Ergebnis der Produktivitätssteigerung beteiligt werden.

Bei ihren Bemühungen, den Arbeitern eine Zwangsjacke anzulegen, schwebte der SED schon lange die Einführung eines Arbeitsgesetzbuchs nach sowjetischem Vorbild vor. Diese Bestrebungen nahmen ihren Ausgang vom Jahre 1949, als ein Ausschuß von sowjetischen und sowjetzonalen Gewerkschafts- und Parteifunktionären einen Entwurf für ein einheitliches Arbeitsgesetzbuch vorlegte. Dieser Entwurf scheiterte damals noch an der mangelnden Kraft des Systems, ein solches Gesetz gegen den starken Widerstand der Arbeitnehmer durchzudrücken. Ein neuer Entwurf, den 1954 eine Kommission des FDGB vorlegte, fand nicht die Zustimmung der sowjetischen Besatzungsmacht, da die Vorlage zu wenig auf das sowjetische Muster einging. Ein weiterer Entwurf von 1957 wurde wegen des Widerstands der Arbeitnehmer zurückgestellt. Erst das persönliche Eingreifen Ulbrichts brachte das im April 1961 verabschiedete Gesetz zuwege.

Dieses Gesetz faßt das gesamte Arbeits- und Sozialrecht der Sowjetzone in 153 Paragraphen zusammen und bringt den mitteldeutschen Arbeitnehmern eindeutige Verschlechterungen. Es beseitigt swohl die individuellen wie die kollektiven Rechte der Arbeiter und Angestellten. Der freien Arbeitsplatzwahl wird ein Ende bereitet, aus dem Recht auf Arbeit wird eine Zwangsverpflichtung zur Arbeit konstruiert, und das formell in der Verfassung der sogenannten DDR noch verankerte Streikrecht wird mit keinem Wort erwähnt. Die weltweite Bewegung um die 40-Stundenwoche und einen längeren Urlaub hat im Arbeitsgesetzbuch nicht den geringsten Niederschlag gefunden, obgleich die Sowjetunion einen Stufenplan zur Erlangung der 40-Stundenwoche festgelegt hat.

Am beschämendsten sind jedoch jene Passagen des Gesetzes, die peinlich an das „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit" von 1934 aus der Nazizeit erinnern. Wie dieses Gesetz dem Unternehmer die Stellung des Betriebsführers nach dem Führerprinzip einräumte, so bezeichnet jetzt das Arbeitsgesetzbuch der Sowjetzone den Betriebsleiter als „Beauftragten der Arbeiter- und Bauernmacht", der den Betrieb „nach dem Prinzip der Einzelleitung" führt. Damit haben die Kommunisten; ähnlich wie die Nazis, die Struktur ihres totalitären Staates konsequent auch auf der betrieblichen Ebene verwirklicht. Ein Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer sieht das Arbeitsgesetzbuch nicht vor. Ihnen ist nur die Rolle eines willenlosen Rädchens in der Produktionsmaschine, der totalen Wirtschaftsplanung zugedacht.

Die Mißachtung des Menschen im Wirtschaftsprozeß der Sowjetzone läßt sich nur noch mit den Verhältnissen im Frühkapitalismus vergleichen. Das Arbeitsgesetzbuch verrät in seinem ganzen Inhalt und Geist die menschenverachtende Einstellung der Machthaber der Sowjetzone, denen es nur um eine Verplanung und optimale Ausbeutung der Arbeitskraft geht. Es zeigt mit erschreckender Deutlichkeit, wie sehr die Ulbricht-Clique dem Ökonomismus huldigt. Das heißt, für sie ist nicht die Wirtschaft um des Menschen willen, sondern der Mensch um der Wirtschaft willen da. Nicht das Wohl der Arbeitnehmer ist das Ziel aller Anstrengungen, sondern die Entfaltung der Produktion zum Zwecke der Machterweiterung des Regimes im Interesse der kommunistischen Weltherrschaftspläne. Man kann das Arbeitsgesetzbuch der Sowjetzone daher getrost als Kodifizierung eines modernen Sklavenhaltersystems bezeichnen.

Über diese Situation können auch die dialektischen Kunstgriffe des FDGB nicht hinwegtäuschen, die das Arbeitsgesetzbuch der Sowjetzone und die in ihm enthaltene Stellung des Arbeitnehmers damit begründen, daß in der sogenannten DDR der Gegensatz von Arbeit und Kapital beseitigt ist. Der Versuch, eine Übereinstimmung zwischen Staat und Gesellschaft zu konstruieren, ist eine zynische Verleumdung der tatsächlichen sozialen Verhältnisse. Wir in der Bundesrepublik Deutschland haben die Pflicht, unser ganzes Volk und darüber hinaus die gesamte Weltöffentlichkeit auf das schreiende Unrecht und die grausame Unterdrückung hinzuweisen, die sich in dem im April verabschiedeten Arbeitsgesetzbuch der Sowjetzone niederschlägt. Dieses Arbeitsgesetzbuch ist eine Provokation aller freien Menschen und aller unserer Vorstellungen von Menschenrecht und Menschenwürde.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 81, 29.4.1961.
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