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Information von Egon Krenz an SED-Generalsekretär Erich Honecker über den „gegenwärtigen Stand bei Übersiedlungsersuchen", 14. April 1988

Information von Egon Krenz an SED-Generalsekretär Erich Honecker über den „gegenwärtigen Stand bei Übersiedlungsersuchen", 14. April 1988

ZENTRALKOMITEE

HAUSMITTEILUNG



An
Genossen
Erich Honecker

Mitglied des Politbüros
Egon Krenz

Datum
14.4.88

Geheime Verschlußsache ZK 02 210


Lieber Genosse Erich Honecker!

In der Anlage übergebe ich Dir eine Information über den gegenwärtigen Stand bei Übersiedlungsersuchen nach der BRD und Berlin (West).

Ich bitte zu prüfen,
  • ob diese Information den Mitgliedern und Kandidaten des Politbüros übergeben werden kann und
  • ich auf der nächsten Beratung, die Genosse Horst Dohlus mit den 2. Sekretären der SED-Bezirksleitungen durchführt, die Schlußfolgerungen bespreche.
Ich bitte um Entscheidung.

Mit sozialistischem Gruß
Egon Krenz


Anlage

Abteilung für Sicherheitsfragen

Berlin, den 14. 4. 1988

Information
über Übersiedlungsersuchen nach der BRD und nach Berlin (West)



Alle Bezirks- und Kreisleitungen der SED haben nach den Beratungen mit den 1. Kreissekretären am 06. 02. 1987 und am 12. 02. 1988 Maßnahmen beschlossen, um nichtgerechtfertigte Übersiedlungen zurückzudrängen.

Es ist erreicht worden, daß im Jahre 1987 gegenüber 1986 15 % weniger Bürger erstmalig Übersiedlungsersuchen stellten und die erreichten Rücknahmen von Übersiedlungsersuchen auf 29,5 % erhöht wurden. Ein Teil hat jedoch nicht ehrlich und dauerhaft von der Absicht Abstand genommen und tritt nach gewisser Zeit erneu als Antragsteller auf.

Im Jahre 1987 ist eine Verschärfung der Situation eingetreten. Gegenwärtig liegen den staatlichen Organen Ersuchen auf Übersiedlung von rd. 112.000 Bürgern vor (1986 waren es rd. 78.000).

Die meisten Ersuchen gibt es in den Bezirken:
  • Dresden: rd. 30.000
  • Karl-Marx-Stadt: rd. 16.800
  • Berlin: rd. 15.300
Von den rd. 112.000 Bürgern sind 52.800 Facharbeiter und 11.500 Personen mit abgeschlossener Hoch- und Fachschulbildung, darunter 1.142 Ärzte und Zahnärzte, 2.675 Angehörige des mittleren medizinischen Personals und rd. 670 Lehrer. Bei den Ärzten und den Angehörigen des mittleren medizinischen Personals gibt es Konzentrationen in bestimmten Einrichtungen, z. B. im Krankenhaus Berlin-Friedrichshain, in medizinischen Einrichtungen im Bezirk Dresden und in der Medizinischen Akademie Erfurt.

Die Übersiedlungsersuchenden setzen sich altersmäßig wie folgt zusammen:
  • unter 14 Jahre: 24,7 %
  • von 15 bis 24 Jahre: 25,9 %
  • von 25 bis 40 Jahre: 36,4 %
  • über 40 Jahre: 13,0 5
33.371 Bürger sind unter 18 Jahre alt.

Die Genehmigungen von Übersiedlungsersuchen haben sich in den letzten Jahren wie folgt entwickelt:
  • 1985 = 20.147
  • 1986 = 16.902
  • 1987 = 10.420
Die Erfahrungen zeigen, daß die Zahl der genehmigten Übersiedlungen und die Erweiterung von Reisemöglichkeiten nicht zur Reduzierung der Gesamtzahl der Übersiedlungsersuchenden führten. Vielmehr ist festzustellen, daß sie Rückwirkungen auf andere Bürger haben und zu neuen Anträgen führen.

Außerdem bewirkt die zunehmende Zahl des ungesetzlichen Verlassens der DDR, daß von den zurückgebliebenen Familienangehörigen Übersiedlungsersuchen gestellt werden. Im Jahre 1987 waren das 2.166 Ersuchen (1986: 830).

In schriftlichen Ersuchen von Bürgern, die die DDR verlassen wollen, oder in Aussprachen mit ihnen zeigt sich, daß die Mehrzahl illusionäre Vorstellungen über die Lebensverhältnisse in der BRD und in Berlin (West) hat, von der Menschenfeindlichkeit des imperialistischen Systems nicht überzeugt ist und mit der Übersiedlung bürgerliche Lebensideale verfolgt. Die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR werden teilweise oder vollständig abgelehnt. Viele haben eine feindliche Einstellung zur DDR und lehnen den Sozialismus prinzipiell ab.

Die Übersiedlungsersuchen werden zum Teil auch begünstigt durch bürokratisches Verhalten und Herzlosigkeit im Umgang mit Bürgern, Mängel in den Arbeitsbedingungen oder in der Versorgung mit Konsumgütern bzw. bei Dienstleistungen und durch Verärgerungen über ungelöste Wohnungsprobleme und staatliche Entscheidungen. Ein Teil der betreffenden Personen benutzt die angegebenen Gründe als Vorwand. Wenn z. B. ein Wohnungsproblem gelöst wurde, nehmen viele dennoch nicht von ihrem Ersuchen Abstand.

Eine zunehmende Zahl vor arbeitsfähigen Übersiedlungsersuchenden kündigt von sich aus das Arbeitsrechtsverhältnis. Gegenwärtig betrifft das 3.881 Personen. Weitere 1.856 Bürger üben eine unter ihrem Qualifikationsnivau liegende Tätigkeit aus.

Sie erhoffen sich damit eine schnellere Genehmigung ihrer Ersuchen und wollen einer politischen Einflußnahme durch Leiter und Arbeitskollektive ausweichen. Übersiedlungsersuchende vertreten teilweise Auffassungen wie z. B. „Für diesen Staat keinen Handschlag". Oftmals tragen sie zu mangelnder Arbeitsdisziplin und geringer Verantwortlichkeit in den jeweiligen Kollektiven bei.

Die Mehrzahl der Übersiedlungsersuchenden vertritt sehr hartnäckig ihre Absicht. Oft versuchen sie, durch Androhung von Gewalt und Begehung von Straftaten Druck auf staatliche Organe auszuüben.

Verschiedene Bürger bringen in ihren Ersuchen zum Ausdruck:
  • Wir werden uns die Genehmigung zur Übersiedlung erkämpfen. Jedes Mittel ist uns recht.
  • Durch die Ereignisse nach dem 17. Januar 1988 in Berlin wissen wir, wie wir unsere Übersiedlung erzwingen können.
Im verstärkten Maße führen in letzter Zeit Übersiedlungsersuchende Aktionen gegen den sozialistischen Staat durch. Insbesondere werden Zusammenrottungen, illegale Zusammenkünfte, Provokationen oder Schweigedemonstrationen und -spaziergängen durchgeführt. Sie verbreiten antisozialistische Schriften. Diese Aktionen lassen Organisationscharakter erkennen.

Verschiedene Kräfte sind auch bemüht, Organisationen von Übersiedlungsersuchenden bzw. Organisationen, die sich mit solchen Fragen befassen, zu schaffen, z. B. „Arbeitsgruppe für Staatsbürgerschaftsrecht".

Die im Zusammenhang mit den Ereignissen am 17. Januar 1988 erfolgten Übersiedlungen von Provokateuren haben zu verstärkten Aktivitäten eines großen Teils der Übersiedlungsersuchenden geführt. In Berlin erschienen z. B. an einem Tag (09. 02. 1988) 1.344 Bürger bei den Räten der Stadtbezirke. Eine sachliche gesprächsführung mit diesen ist in der Regel nicht möglich. Ihr Auftreten ist extrem aggressiv, höhnisch und arrogant. Verschiedene drohen mit demonstrativen Aktionen, insbesondere am 1. Mai.

Diese Entwicklung zeigt, daß die ideologische Einflußnahme des Gegners bei einem Teil unserer Bürger Wirkung hat. Im zunehmenden Maße versucht er, Bürger der DDR in Gegensaz zur Politik der Partei und des Staates zu bringen und sie zum Verlassen der DDR zu inspirieren. Übersiedlungsersuchende sollen in die feindlichen Bestrebungen zur Schaffung einer inneren Oppositon mit konterrevolutionärer Zielstellung einbezogen werden. Demagogisch werden einige individuelle Rechte, wie Freizügigkeit und Reisefreiheit, als „erstrangige Menschenrecht" deklariert.

Unter Mißbrauch vor allem der evangelischen Kirche bzw. von reaktionären Kräften in den Kirchen wird versucht, die feindliche Beeinflussung sowie antisozialistische Handlungen von übersiedlungs-ersuchenden und anderen Personen zu verstärken. Von einigen Kräften der evangelischen Kriche werden u. a.
  • Räumlichkeiten und Organisationsformen für Übersiedlungsersuchende und subversive Kräfte zur Verfügung gestellt;
  • Hinweise für ihr Vorgehen gegenüber staatlichen Organen gegeben;
  • in Abstimmung mit westlichen Massenmedien bei notwendigen staatlichen Maßnahmen Protestaktionen und Sympathiebekundungen organisiert und Rechtsschutz gewährt.
Das „Kontaktbüro für seelsorgerische Betreuung" in der Generalsuperintendentur Berlin wurde z. B. vom 8. Februar 1988 bis 15. März 1988 von über 1.000 Übersiedlungsersuchenden aufgesucht. Die Zusammenarbeit dieser Stelle mit Vertretern westlicher Massenmedien wird auch dazu genutzt, Angaben über diese Personen westlichen Einrichtungen und Organisationen zur Verfügung zu stellen. Die Massenmedien in der BRD und in Berlin (West), insbesondere die Hör- und Fernsehsender, nehmen einen wesentlichen Einfluß auf die Herausbildung von Übersiedlungsabsichten und die Durchführung von provokatorisch-demonstrativen Handlungen. Nahezu täglich werden Informationen und Meldungen über Absichten, Methoden und angebliche Motive des Verlassens der DDR veröffentlicht. Es ist bewiesen, daß provokatorische und demonstrative Aktivitäten durch Vertreter westlicher Massenmedien bzw. in Abstimmung mit ihnen organisiert worden sind.

Die DDR hat mit der Verordnung zur Regelung von Fragen der Familienzusammenführung und der Eheschließung von Bürgern der DDR und Ausländern vom 15. 9. 1983, GBl. I, S. 254, der Schlußakte der KSZE von Helsinki und den Dokumenten von Madrid voll Rechnung getragen. Ein generelles Recht zum Verlassen des eigenen Landes gibt es im Völkerrecht und auch in der internationalen Staatspraxis nicht.

Auf der KSZE-Nachfolgekonferenz in Wien sind die NATO-Staaten bestrebt, Vereinbarungen im Bereich der militärischen Sicherheit generell davon abhängig zu machen, daß die sozialistischen Staaten die westlichen Forderungen im Menschenrechts- und humanitären Bereich akzeptieren.

Von ausschlaggebender Bedeutung für die entschiedene Zurückdrängung von Übersiedlungsersuchen ist ihre Vorbeugung. Wenn ein Ersuchen zur Übersiedlung gestellt wurde, haben sich in der Regel bereits die negative Einstellung zur DDR sowie die Übersiedlungsabsicht sehr verfestigt.

Gegenwärtig ist in vielen Parteiorganisationen, Betrieben und Kollektiven und bei den Bürgern noch nicht die erforderliche Position zur Vorbeugung von Übersiedlungsersuchen vorhanden. Die geforderte breite gesellschaftliche Atmosphäre gegen diese Erscheinungen ist noch nicht geschaffen worden. Selbst Parteimitglieder, Gewerkschaftsfunktionäre oder Brigadiere erklären manchmal ihr Unverständnis, warum man die betreffenden Bürger nicht übersiedeln läßt. Noch zu wenig wird das vertrauensvolle Gespräch mit Bürgern geführt, die sich in Konfliktsituationen befinden oder eine Übersiedlung in Erwägung ziehen.

Von den Bereichen Inneres der örtlichen Räte wird in Zusammenarbeit mit den Sicherheitsorganen eine politisch verantwortungsvolle Arbeit geleistet. Zur Qualifizierung ihrer Tätigkeit wurden Weiterbildungsmaßnahmen durchgeführt, Argumentationsmaterialien herausgegeben, gute Erfahrungen verallgemeinert und qualifizierte Kader aus dem Partei- bzw. Staatsapparat eingesetzt. Bei den Mitarbeitern der Bereiche Inneres handelt es sich in der Mehrzahl um politisch verantwortungsbewußte und erfahrene Genossen.

In letzter Zeit ist festzustellen, daß die Wirksamkeit der Bereiche Inneres, insbesondere hinsichtlich der Unterstützung der Betriebe, zurückgegangen ist. In einigen Kreisen sind sowohl die Zahl als auch die Qualifikation der Mitarbeiter nicht ausreichend. Da sie einem ständigen Druck und zahlreichen Provokationen und Beleidigungen ausgesetzt sind, müssen sie besondere Unterstützung erhalten.


Schlußfolgerungen

  1. Die Bezirks- und Kreisleitungen befähigen die Grundorganisationen der SED in allen Bereichen, die politisch-ideologische Arbeit offensiver und überzeugender zu führen und dabei auf alle Fragen einzugehen, die die Bürger bewegen. Grundlage dafür sind die Argumente des Genossen Erich Honecker in seiner Rede vor den 1.Kreissekretären am 12. 2. 1988.

    Besondere Aufmerksamkeit gilt allen Fragen des täglichen Lebens der Menschen, wie u. a. der Versorgung mit Konsumgütern und Dienstleistungen. Die Stellungnahme des Politbüros zum Bericht der Bezirksleitung Neubrandenburg vom 12. 4. 1988 ist dabei zugrunde zu legen. In den betreffenden Parteiorganisationen ist in Mitgliederversammlungen zu Übersiedlungsabsichten Stellung zu nehmen.

    Unter Führung der Partei ist zu gewährleisten, daß alle gesellschaftlichen Organisationen, insbesondere der FDGB und die FDJ, ihren Einfluß auf die Erziehung ihrer Mitglieder zur Verbundenheit mit der DDR verstärken und die Anstrengungen zur Vorbeugung bzw. Zurückdrängung von Übersiedlungsersuchen erhöhen. Vor allem in den Arbeitskollektiven sind das sozialistische Bewußtsein, sozialistische Lebensauffassungen und Verhaltensweisen sowie klassenmäßige Positionen zu dieser Frage stärker auszuprägen.

  2. Die staatlichen Organe gewährleisten die strikte Durchsetzung der sozialistischen Gesetzlichkeit. Sie behandeln alle Anliegen korrekt und verantwortungsbewußt. Übersiedlungsersuchen sind nach den Weisungen des Vorsitzenden des Ministerrates vom Februar 1988 zu bearbeiten. Ausnahmegenehmigungen sind auf die darin genannten Fälle zu beschränken. Zur wirksamen Verhinderung des ungesetzlichen Verlassens der DDR ist das Antrags-, Prüfungs- und Entscheidungsverfahren für Auslandsreisen zu qualifizieren.

  3. Die Bezirks- und Kreisleitungen unterstützen die Räte der Kreise, die Arbeit der Abteilungen Inneres zu vervollkommnen. Bei nichtgerechtfertigten Übersiedlungsersuchen sind Maßnahmen einzuleiten, daß die Bürger ehrlich und dauerhaft von ihrem Ersuchen Abstand nehmen und wieder fest in unsere Gesellschaft eingegliedert werden. Bei der Arbeit zur Zurückdrängung des Ersuchens dürfen keine ungerechtfertigten arbeitsrechtlichen Maßnahmen und keine Diskriminierung der betreffenden Person eintreten. Es ist zu verhindern, daß Übersiedlungsersuchende keiner geregelten Arbeit nachgehen. Bedingungen, die zur Übersiedlungsabsicht geführt haben, sind gemeinsam mit den betreffenden Personen zu verändern. Die Abteilungen Inneres der örtlichen Räte sind durch weitere Zuführungen parteierfahrener Kader zu stärken.

  4. Die Bezirks- und Kreisleitungen nehmen durch ihre zielgerichtete politische Führungstätigkeit darauf Einfluß, Demonstrationen, Provokationen und andere gesetzwidrige Handlungen von Übersiedlungsersuchenden zu verhindern. Von den Sicherheitsorganen sind derartige beabsichtigte Handlungen rechtzeitig aufzuklären. Sie leiten Maßnahmen zu ihrer Unterbindung bzw. Einschränkung ein.

    Die Anstrengungen zur Verhinderung des Mißbrauchs der evangelischen Kirche für Handlungen der Übersiedlungsersuchenden sind konsequent weiterzuführen. In der differenzierten Arbeit mit kirchlichen Amtsträgern ist stärker an Auffassungen progressiver Kräfte anzuknüpfen.

  5. Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten nimmt darauf Einfluß, daß die Tätigkeit westlicher Korrespondenten korrekt auf der Grundlage der Verordnung über die Tätigkeit von Publikationsorganen anderer Staaten und deren Korrespondenten in der Deutschen Demokratischen Republik vom 21. 2. 1973 (GBl. I, Nr. 10) erfolgt und Aktivitäten zur Organisierung und Unterstützung provokatorischer Handlungen unterbunden werden.

  6. Der Minister des Innern bereitet rechtzeitig die sich aus dem in Vorbereitung befindlichen Wiener KSZE-Schlußdokument hinsichtlich der Übersiedlungsproblematik ergebenden Aufgaben für die DDR vor. Er prüft, inwieweit eine Neufassung der Verordnung vom 15. 9. 1983 notwendig ist.


Quelle: SAPMO-BA, DY 30/2039/308, Bl. 102-109.
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