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Todesopfer

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Werner Kühl: geboren am 10. Februar 1949, erschossen am 24. Juli 1971 an der Berliner Mauer (Aufnahmedatum unbekannt)
Werner Kühl, erschossen an der Berliner Mauer: Gedenkkreuz vor einem Plakat des Studios am Stacheldraht in Berlin-Britz, Juli 1971

Werner Kühl

geboren am 10. Februar 1949
erschossen am 24. Juli 1971


nahe der Brücke Britzer Allee/Baumschulenweg
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Neukölln und Berlin-Treptow

Kühl, Werner

Werner Kühl, geboren am 10. Februar 1949 in West-Berlin, besucht bis 1963 die Schule und ist danach als Gartenarbeiter in verschiedenen Betrieben tätig. Seine Eltern leben getrennt; bei seinem Vater ist er polizeilich gemeldet, seine Mutter betreut ihn. Werner Kühl führt ein unstetes Leben, immer wieder wird er arbeits- und obdachlos. In einem Wohnheim der Jugendfürsorge lernt er 1968/69 den gleichaltrigen Bernd Langer kennen. Dieser stammt aus Ost-Berlin und ist im Rahmen der Familienzusammenführung 1966 zu seinem in West-Berlin lebenden Vater übergesiedelt, sehnt sich aber schon bald wieder zurück zu seiner Großmutter in Ost-Berlin, bei der er aufgewachsen ist. Im Kindesalter hatte er mit seinem Vater einen Motorradunfall; seither leidet er an Bewusstseinsstörungen und einer Nervenerkrankung. [51] Im Juli 1971 sind Werner Kühl und Bernd Langer einige Tage als Transportarbeiter beschäftigt und wohnen gemeinsam in einer Pension. Sie reden öfter von einer Übersiedlung in die DDR, wo sie sich ein besseres Leben erhoffen. Auf Verständnis werden sie mit diesem Motiv später nicht stoßen: im Westen nicht, aber seltsamerweise auch nicht im Osten.
Werner Kühl, erschossen an der Berliner Mauer: Tatortfoto der West-Berliner Polizei, 24. Juli 1971
Am 24. Juli 1971, einem sommerlichen Samstag, verlassen die beiden jungen Männer mitsamt ihrem Gepäck das West-Berliner Hotel. Am Nachmittag fahren sie mit der S-Bahn nach Neukölln und gehen zum Britzer Zweigkanal. Es ist sehr warm, und hier ist eine Badestelle. Erst jetzt eröffnet Kühl seinem Freund den - vielleicht spontanen - Plan, an dieser Stelle die Grenzanlagen zu übersteigen, um nach Ost-Berlin zu gelangen. Den Einwand von Bernd Langer, dass dies zu gefährlich sei und sie den Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße oder den nicht weit entfernten Übergang Sonnenallee benutzen könnten, wischt Werner Kühl beiseite. Er überzeugt ihn, dass sein Vorschlag realisierbar ist – und sein Freund lässt sich mitreißen. [52] Die beiden überqueren den kleinen Kanal, lagern unmittelbar neben dem Streckmetallgitterzaun der Grenzanlagen und warten die Dunkelheit ab.
Werner Kühl, erschossen an der Berliner Mauer: Tatortfoto der West-Berliner Polizei von den Grenzanlagen zwischen Berlin-Neukölln und Berlin-Treptow, 24. Juli 1971
Gegen 22.30 Uhr schlagen sie Decken über den Metallzaun, um sich vor den scharfen Spitzen zu schützen, dann übersteigen sie ihn. Den Großteil ihres Gepäcks lassen sie im Westen zurück. Dann laufen sie in Richtung Ost-Berlin, wo sich in unmittelbarer Grenznähe die Laubenkolonie „Gemütlichkeit III" anschließt. Ein ehemaliger Volkspolizist, der dort mit seiner Frau im Garten steht, hat die beiden West-Berliner schon bemerkt, als sie sich an den Sperranlagen zu schaffen machten. Pflichtbewusst läuft er durch die benachbarte Kleingartenanlage „Harmonie" zum nächsten Wachturm und erstattet Meldung. Bald darauf werden die beiden von den Posten im Grenzstreifen entdeckt, für DDR-Flüchtlinge gehalten und beschossen. Bernd Langer wird am Oberschenkel, am Arm und an der Schulter verletzt und kriecht zu dem Zaun zurück, den er gerade eben erst überwunden hat. Werner Kühl erreicht unverletzt ein Grenztor auf Ost-Berliner Seite, kann es aber nicht öffnen. Nun wendet auch er sich um und läuft zurück. Dabei wird er von einer Kugel in die Schulter getroffen, die einen Lungenlappen, die Speiseröhre und zwei Schlagadern zerreißt und aus der Brust wieder austritt. Bernd Langer sieht, wie Kühl sich „wie eine Spirale dreht" und am KfZ-Graben zusammenbricht. [53] Er kriecht noch einmal zu dem Freund zurück, rüttelt ihn, ruft ihn an - und bleibt schließlich neben ihm liegen. Werner Kühl verblutet innerhalb weniger Minuten.

Ein betrunkener Oberstleutnant der Grenztruppen, der einen dienstfreien Abend hat und alles vom Gartengrundstück eines Bekannten aus mitbekommt, mischt sich in Zivil und gleichwohl mit dem gewohnten Befehlston ein, um den Toten und den Verletzten schnellstmöglich aus dem Blickfeld des Westens zu entfernen. Später muss er sich für seinen Dienstverstoß in aller Form entschuldigen. [54]

Von West-Berliner Seite aus beobachten Polizeiangehörige, Zollbeamte und Zivilisten, wie der Leichnam von Werner Kühl und der verletzte Bernd Langer abtransportiert werden; sie halten beide irrtümlich für DDR-Flüchtlinge – und den betrunkenen, zivil gekleideten Offizier für ihren dritten Mann. Während der Leichnam ins Volkspolizei-Krankenhaus nach Berlin-Mitte gebracht wird, fährt ein Rettungswagen der Feuerwehr Bernd Langer in das Haftkrankenhaus der Staatssicherheit. Noch am 24. Juli 1971 eröffnet die Untersuchungsabteilung der Ost-Berliner MfS-Bezirksverwaltung ein Ermittlungsverfahren gegen ihn; zwei Tage später wird Haftbefehl erlassen. [55]

In einem Schreiben an SED-Generalsekretär Erich Honecker bescheinigt der Chef der DDR-Grenztruppen, Generalleutnant Peter, den beiden Todesschützen ein „taktisch richtiges Handeln"; die Grenzposten werden kurz darauf mit der „Medaille für vorbildlichen Grenzdienst" ausgezeichnet. [56] Im Mai 2000 wird einer der beiden Mauerschützen wegen mittäterschaftlich begangenen Totschlags zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und zwei Monaten zur Bewährung verurteilt; sein damaliger Kamerad ist bereits verstorben. [57] Wer in dieser Nacht mit welchem Gewehr wie oft geschossen hat, bleibt ungeklärt. Weil einschlägige Ermittlungen wie die kriminaltechnische Untersuchung der Tatwaffen und Projektile, aber auch der Bekleidung von Werner Kühl seinerzeit unterlassen wurden, fällt es dem Landgericht Berlin schwer, den individuellen Tatbeitrag der beiden Grenzsoldaten festzustellen. Auf Grund der rechtskräftigen, niedrigen Strafen für die SED-Machthaber und –Funktionäre sieht sich das Gericht zudem in seinen Möglichkeiten eingeschränkt, „dem Angeklagten durch eine Kriminalstrafe das Unrecht seiner Tat deutlich zu machen". [58]

Die Opfer werden im Jahr 1971 zum Spielball zwischen den Fronten des Kalten Krieges. Die politischen Weichen sind international auf Entspannungspolitik gestellt. Die Vier Mächte ringen um ein Berlin-Abkommen, die beiden deutschen Staaten verhandeln über Erleichterungen im Besucher- und Reiseverkehr zwischen West-Berlin bzw. der Bundesrepublik und der DDR. Nicht zuletzt wegen des Schießbefehls sind die Gespräche mit der SED-Führung in der Bundesrepublik zwischen der sozialliberalen Regierungskoalition und der konservativen CDU/CSU-Opposition heftig umstritten. In der DDR wiederum hat Erich Honecker seit wenigen Wochen die Nachfolge von Walter Ulbricht als SED-Generalsekretär angetreten; der Baumeister der Mauer lässt Feierlichkeiten zum 10. Jahrestag der Errichtung des „antifaschistischen Schutzwalls" vorbereiten. Der Tote und sein verletzter Freund stören beide Seiten - und sie werden als Störmittel instrumentalisiert.

Ohne eigene Ermittlungen einzuleiten, gibt die West-Berliner Polizei die Beobachtung der Augenzeugen für die Presseberichterstattung frei. Als ein im Kugelhagel gescheiterter Fluchtversuch von drei DDR-Bürgern macht der Grenzzwischenfall in den Westmedien Furore. Die Bundesregierung und der West-Berliner Senat protestieren ebenso wie der amerikanische Stadtkommandant und weisen darauf hin, dass der „menschenverachtende Zwischenfall (…) in keiner Weise dazu angetan [sei], Gespräche zu fördern, die den Menschen in Deutschland das Leben erleichtern sollten." [59]

Die DDR-Presseagentur ADN kontert am gleichen Tag: Zwei West-Berliner – und nicht drei DDR-Flüchtlinge - hätten eine „schwere Grenzprovokation" verübt und seien „verletzt" worden, heißt es im „Neuen Deutschland". Das SED-Zentralorgan beschweigt den Tod von Werner Kühl – und wirft der „Westberliner Presse des Springer-Konzerns der Wahrheit widersprechende Berichte" vor, „um in der Westberliner Bevölkerung die Stimmung gegen jede Verhandlungs- und Entspannungsbereitschaft anzuheizen." [60] Umgehend weist der West-Berliner Senat diese Darstellung zurück und verteidigt seine Version. [61] Zugleich ersucht die West-Berliner Polizei die Volkspolizei telegrafisch um nähere Auskunft zu den beiden angeblichen West-Berlinern, erhält jedoch keine Antwort. Nachdem auch die internationale Presse die DDR wegen des Vorfalls anprangert, entschließt sich die Ost-Berliner Führung am zehnten Tag nach dem Grenzzwischenfall zu einer neuen Erklärung. Die Namen der beiden West-Berliner und ihre Wohnanschriften werden veröffentlicht. Erst jetzt wird auch die Erschießung von Werner Kühl eingeräumt – und zugleich der Westen angegriffen, der wegen der „Grenzprovokation", wie es im „Neuen Deutschland" heißt, eine „großangelegte Hetzkampagne gegen die DDR gestartet" habe. [62]

Die West-Berliner Polizei sieht sich gezwungen, ihre falsche Version zurückzuziehen. Eine Überprüfung der Personenangaben ergibt, dass Werner Kühl der Kriminalpolizei wegen verschiedener Delikte wie Kfz-Diebstahl, Beleidigung und gemeinschaftlichem Diebstahl bekannt ist. Über Bernd Langer liegen Erkenntnisse wegen Nötigung und Widerstand vor; auch ist seine Nervenerkrankung registriert. All dies wird nun von der West-Berliner Polizei zur Veröffentlichung freigegeben – und unter Berufung auf nicht näher bezeichnete „andere Informationen" eine neue Legende in die Welt gesetzt: Werner Kühl und Bernd Langer hätten beabsichtigt, einer in Ost-Berlin lebenden Freundin zur Flucht zu verhelfen. [63]

Während dieses Propagandakrieges entwirft die Staatssicherheit hektisch „Maßnahmepläne". Als unmittelbaren Augenzeugen des Vorfalls plant sie zunächst, Bernd Langer in der Psychiatrie des Haftkrankenhauses Waldheim verschwinden zu lassen, und zwar in der „Sondereinrichtung für Geheimnisträger". [64] Fieberhaft und kreativ bemüht sie sich, Rechtfertigungen für die tödlichen Schüsse auf einen West-Berliner zu erfinden. So wird etwa vorgeschlagen, bei Kühl die Telefonnummer einer „Terrororganisation" gefunden zu haben, womit die „Vereinigung der Opfer des Stalinismus" gemeint ist; „zu plump", steht handschriftlich am Rand des Schreibens. [65] Man beabsichtigt die "Schaffung weiterer Beweismittel für das verbrecherische Eindringen auf das Gebiet der DDR". [66] Es wird überlegt, Beweise zu konstruieren, dass „Kühl am Körper entweder eine Schusswaffe, Sprengstoff oder Sprengzünder bei sich führte […]" [67]. Jedenfalls plant man, die gesetzlichen Grundlagen zu nutzen, damit die „Leiche nicht überführt zu werden braucht". Dabei beruft man sich auf „allgemein anerkannte hygienische Erfordernisse", wie sie – makabrer Weise - im in der DDR nach wie vor gültigen „Feuerbestattungsgesetz vom 10.8.1938" festgelegt sind. [68] In Abstimmung mit der DDR-Generalstaatsanwaltschaft beschließt das MfS zuletzt die Einäscherung von Werner Kühl, um „einen Missbrauch des Leichnams zu politischen Demonstrationen in Westberlin zu verhindern". [69]

Von den anderen Plänen bleibt nicht viel übrig. Die Stasi selbst kommt in einer Information für Erich Honecker zu dem Ergebnis, dass „sich die beiden Grenzverletzer nicht sehr gut eignen, öffentlich als große Provokateure dargestellt zu werden". [70] Es fehle ihnen an richtigen Hintermännern wie Geheimdiensten und Agentenzentralen. Und so ist es Honecker selbst, der die Lösung handschriftlich auf der MfS-Information vorgibt: Bernd Langer sei „nach Westberlin abzuschieben, wenn er den entsprechenden Wunsch hat". [71]

Am 30. August 1971 wird Bernd Langer aus der Untersuchungshaft entlassen und durch den Ost-Berliner Rechtsanwalt und Honecker-Vertrauten Wolfgang Vogel am Grenzübergang Sandkrugbrücke der West-Berliner Polizei überstellt. Bernd Langer stellt klar, dass weder er noch Werner Kühl eine Verlobte in Ost-Berlin hatten, er weder mit Fluchthilfe noch mit Fluchthelferkreisen zu tun hatte und keinerlei politische Motive verfolgte. [72] Vogel übergibt zugleich die Urne mit der Asche von Werner Kühl. [73] Mit ihr zusammen händigt er lediglich die Sterbeurkunde und Werner Kühls Personalausweis aus.

Die Dokumente und Unterlagen, die Werner Kühl bei sich führte, bleiben als Indizien in Ost-Berlin, da sie „durch die Schussverletzungen verunreinigt" worden seien. [74] Um einen Widerspruch zur ADN-Meldung zu vermeiden, ist die Sterbeurkunde von Werner Kühl gefälscht worden: Sie weist den 26. Juli 1971, 23.50 Uhr, als Todesdatum aus. [75] Werner Kühl wird von seiner Familie auf dem St. Johannes Friedhof am Nordufer in Berlin-Wedding beigesetzt.

Text: Martin Ahrends/Udo Baron/Hans-Hermann Hertle

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