geboren am 16. Mai 1943
erschossen am 19. Juni 1970
nahe der Schillingbrücke
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Kreuzberg und Berlin-Friedrichshain
Müller, Heinz
Heinz Müller wird am 16. Mai 1943 in Rostock geboren. Bei Pflegeeltern wächst er im sauerländischen Medebach auf. Wie und wann er in die Westzonen bzw. in die Bundesrepublik kam, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Er erlernt dort den Beruf eines kaufmännischen Angestellten, geht nach seiner Ausbildung nach West-Berlin und findet hier eine Anstellung als Aushilfskraft in einem Kaufhaus. An den Wochenenden hält er sich gern in Ost-Berlin auf. Er besucht dort Bekannte und geht auch häufiger in Restaurants essen, wie sein Pflegevater später der West-Berliner Polizei berichtet. [27]
Am 18. Juni 1970 hält sich Heinz Müller seit dem Nachmittag auf einem Aussichtspodest vor der Mauer im Stadtteil Kreuzberg auf. Anwohner im Ost-Berliner Stadtteil Friedrichshain beobachten, wie er mit einer Flasche in der Hand immer wieder auffällig in Richtung Ost-Berlin gestikuliert und Worte ruft, die niemand verstehen kann. [28] DDR-Grenzsoldaten registrieren den „Provokateur!". Mitten in der Nacht, gegen 1.50 Uhr, steigt oder fällt Müller betrunken über die Mauer – oder wird von anderen darüber gestoßen. Erst als er sich im grellen Licht der Sperranlagen wieder findet, dürfte ihm bewusst geworden sein, was geschehen ist. Desorientiert läuft er innerhalb der Grenzanlagen umher. Ein Grenzposten im nahen Wachturm an der Schillingbrücke bemerkt ihn und gibt aus ca. 200 Metern Entfernung zwei Feuerstöße in seine Richtung ab. Mit durchschossener Hüfte bricht Heinz Müller zusammen. Vor Schmerzen laut stöhnend ruft er um Hilfe. Als die Grenzsoldaten hinzukommen, brüllt er sie an: „Ihr Schweinehunde!" Zeugen, die von ihrer in der Nähe gelegenen Ost-Berliner Wohnung aus den Vorfall beobachten, rufen den Grenzposten noch zu: „Ihr Mörder, helft ihm doch!" [29] Als ein Offizier hinzukommt, wird Heinz Müller zu einem nahe gelegenen Bunker gezogen. Dort erst leistet man ihm Erste Hilfe.
Es vergeht noch eine Stunde, bis er mit einem Armeefahrzeug zum Volkspolizei-Krankenhaus gebracht wird. Eine sofortige Operation hilft ihm nicht mehr. Gegen 4.50 Uhr erliegt Heinz Müller seinen Verletzungen. [30]
Sein Leichnam wird am 31. Juli 1970 im Krematorium Berlin-Baumschulenweg eingeäschert und die Urne auf dem Friedhof Baumschulenweg vergraben. Der Todesschütze wird wenig später für seine Tat belobigt und mit dem Leistungsabzeichen der Grenztruppen ausgezeichnet. Alle anderen beteiligten Grenzposten erhalten Sachprämien und Sonderurlaub. Dass Heinz Müller gestorben ist, erfahren sie nicht. [31]
Erst im November 1991 erhebt die Berliner Staatsanwaltschaft Anklage gegen den Todesschützen. Das Berliner Landgericht verurteilt ihn am 28. Oktober 1992 zu einer zweijährigen Jugendstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wird. [32] Nachdem der Bundesgerichtshof den Revisionsantrag gegen das Urteil verworfen hat, wird es am 19. April 1994 rechtskräftig.
In West-Berlin ahnt im Juni 1970 niemand, dass Heinz Müller tot ist. Als er nach drei Tagen Abwesenheit nicht an seinem Arbeitsplatz erscheint, wird ihm fristlos gekündigt. [33] Am 3. Juli gibt ein Kollege eine Vermisstenanzeige auf. Die West-Berliner Polizei lässt daraufhin die Tür zu Heinz Müllers Wohnung durch Feuerwehrleute öffnen. Doch alles, was sie vorfinden, ist ein aufgeräumtes Zimmer. [34]
Die Pflegeeltern von Heinz Müller beginnen nun, nach ihm zu fahnden, doch ist und bleibt er spurlos verschwunden. Immer wieder erkundigt sich der Pflegevater in den folgenden Wochen und Monaten nach dem Stand der polizeilichen Ermittlungen. Er fürchtet, sein Pflegesohn könnte in Ost-Berlin verhaftet worden sein. [35] Doch die West-Berliner Polizei kommt bei ihren Ermittlungen nicht weiter, denn die DDR-Behörden hüllen sich in Schweigen: Anfragen, ob ein Heinz Müller in Ost-Berlin aufgetaucht sei, werden abschlägig beschieden. [36] So erfährt niemand etwas über die wahren Gründe für sein Verschwinden. Erst mit der deutschen Einheit kommt ans Licht, was wirklich in jener Nacht im Juni 1970 mit Heinz Müller geschehen ist. [37]
Der in der DDR ausgestellte Totenschein von Heinz Müller ist mit einer DDR-Adresse versehen. [38] Vermutlich hat die Staatssicherheit das Opfer zu einem DDR-Bürger „legendiert", um Anfragen aus dem Westen ins Leere laufen zu lassen. [39]
Text: Udo Baron
Am 18. Juni 1970 hält sich Heinz Müller seit dem Nachmittag auf einem Aussichtspodest vor der Mauer im Stadtteil Kreuzberg auf. Anwohner im Ost-Berliner Stadtteil Friedrichshain beobachten, wie er mit einer Flasche in der Hand immer wieder auffällig in Richtung Ost-Berlin gestikuliert und Worte ruft, die niemand verstehen kann. [28] DDR-Grenzsoldaten registrieren den „Provokateur!". Mitten in der Nacht, gegen 1.50 Uhr, steigt oder fällt Müller betrunken über die Mauer – oder wird von anderen darüber gestoßen. Erst als er sich im grellen Licht der Sperranlagen wieder findet, dürfte ihm bewusst geworden sein, was geschehen ist. Desorientiert läuft er innerhalb der Grenzanlagen umher. Ein Grenzposten im nahen Wachturm an der Schillingbrücke bemerkt ihn und gibt aus ca. 200 Metern Entfernung zwei Feuerstöße in seine Richtung ab. Mit durchschossener Hüfte bricht Heinz Müller zusammen. Vor Schmerzen laut stöhnend ruft er um Hilfe. Als die Grenzsoldaten hinzukommen, brüllt er sie an: „Ihr Schweinehunde!" Zeugen, die von ihrer in der Nähe gelegenen Ost-Berliner Wohnung aus den Vorfall beobachten, rufen den Grenzposten noch zu: „Ihr Mörder, helft ihm doch!" [29] Als ein Offizier hinzukommt, wird Heinz Müller zu einem nahe gelegenen Bunker gezogen. Dort erst leistet man ihm Erste Hilfe.
Es vergeht noch eine Stunde, bis er mit einem Armeefahrzeug zum Volkspolizei-Krankenhaus gebracht wird. Eine sofortige Operation hilft ihm nicht mehr. Gegen 4.50 Uhr erliegt Heinz Müller seinen Verletzungen. [30]
Sein Leichnam wird am 31. Juli 1970 im Krematorium Berlin-Baumschulenweg eingeäschert und die Urne auf dem Friedhof Baumschulenweg vergraben. Der Todesschütze wird wenig später für seine Tat belobigt und mit dem Leistungsabzeichen der Grenztruppen ausgezeichnet. Alle anderen beteiligten Grenzposten erhalten Sachprämien und Sonderurlaub. Dass Heinz Müller gestorben ist, erfahren sie nicht. [31]
Erst im November 1991 erhebt die Berliner Staatsanwaltschaft Anklage gegen den Todesschützen. Das Berliner Landgericht verurteilt ihn am 28. Oktober 1992 zu einer zweijährigen Jugendstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wird. [32] Nachdem der Bundesgerichtshof den Revisionsantrag gegen das Urteil verworfen hat, wird es am 19. April 1994 rechtskräftig.
In West-Berlin ahnt im Juni 1970 niemand, dass Heinz Müller tot ist. Als er nach drei Tagen Abwesenheit nicht an seinem Arbeitsplatz erscheint, wird ihm fristlos gekündigt. [33] Am 3. Juli gibt ein Kollege eine Vermisstenanzeige auf. Die West-Berliner Polizei lässt daraufhin die Tür zu Heinz Müllers Wohnung durch Feuerwehrleute öffnen. Doch alles, was sie vorfinden, ist ein aufgeräumtes Zimmer. [34]
Die Pflegeeltern von Heinz Müller beginnen nun, nach ihm zu fahnden, doch ist und bleibt er spurlos verschwunden. Immer wieder erkundigt sich der Pflegevater in den folgenden Wochen und Monaten nach dem Stand der polizeilichen Ermittlungen. Er fürchtet, sein Pflegesohn könnte in Ost-Berlin verhaftet worden sein. [35] Doch die West-Berliner Polizei kommt bei ihren Ermittlungen nicht weiter, denn die DDR-Behörden hüllen sich in Schweigen: Anfragen, ob ein Heinz Müller in Ost-Berlin aufgetaucht sei, werden abschlägig beschieden. [36] So erfährt niemand etwas über die wahren Gründe für sein Verschwinden. Erst mit der deutschen Einheit kommt ans Licht, was wirklich in jener Nacht im Juni 1970 mit Heinz Müller geschehen ist. [37]
Der in der DDR ausgestellte Totenschein von Heinz Müller ist mit einer DDR-Adresse versehen. [38] Vermutlich hat die Staatssicherheit das Opfer zu einem DDR-Bürger „legendiert", um Anfragen aus dem Westen ins Leere laufen zu lassen. [39]
Text: Udo Baron