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Lothar Schleusener: geboren am 14. Januar 1953, erschossen am 14. März 1966 an der Berliner Mauer (Aufnahmedatum unbekannt)
Lothar Schleusener, erschossen an der Berliner Mauer: Gedenktafel des im November 1999 errichteten Denkmals für Lothar Schleusener und Jörg Hartmann in der Kiefholzstraße (Aufnahme 2007)

Lothar Schleusener

geboren am 14. Januar 1953
erschossen am 14. März 1966


in der Kiefholzstraße nahe der Kleingartenkolonie "Sorgenfrei"
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Treptow und Berlin-Neukölln

Schleusener, Lothar

Im November 1997 spricht das Landgericht Berlin einen ehemaligen Grenzsoldaten des Totschlags an Jörg Hartmann und Lothar Schleusener schuldig und verurteilt ihn zu einer Bewährungsstrafe von 20 Monaten. [21] Der Angeklagte hat gestanden, dass er am 14. März 1966 zusammen mit einem Grenzer, der inzwischen verstorben ist, auf die beiden Kinder geschossen hat. [22] Von seinem Standort auf dem Beobachtungsturm am sogenannten „Grenzknick" habe er einen menschlichen Schatten wahrgenommen und geglaubt, eine Person sei im Sperrgraben und würde beim Versuch, aus dem Graben herauszukommen, immer wieder abrutschen. Um den vermeintlichen Flüchtling aufzuhalten, habe er seinem Posten befohlen, vom Turm zu steigen, um unten zu „sichern", und von oben das Feuer eröffnet, weil er sich keinen anderen Rat wusste und dies für seine Pflicht hielt. Insgesamt 40 Schüsse gibt er ab. Als er nach der Einstellung des Feuers vom Turm herunter gekommen sei und gesehen habe, dass es Kinder waren, sei er „völlig fertig" gewesen und habe sofort gewusst, dass es falsch war, blindwütig drauflos zu schießen, sagt der Schütze im Nachhinein. [23]

Die Opfer werden, wie es in dem einzigen amtlichen Dokument heißt, das den Hergang des Geschehens bezeugt, „verletzt geborgen und mit Sankra in das VP-Krankenhaus eingeliefert. Einer der beiden Grenzverletzer ist seinen Verletzungen erlegen, der zweite war im VP-Krankenhaus bereits vernehmungsfähig und gab an, dass er aus dem Stadtbezirk Friedrichshain stammt." [24] Dass es Kinder sind, bleibt in dem Bericht ebenso unerwähnt wie die Namen der Opfer und die Tatsache, dass Lothar Schleusener, der ältere der beiden Jungen, der im Krankenhaus angeblich vernehmungsfähig gewesen sein soll, noch in der gleichen Nacht starb.
Lothar Schleusener wird 1953 in Ost-Berlin geboren und wächst mit seiner älteren Schwester im Stadtbezirk Friedrichshain auf. Der Vater ist Elektriker, die Mutter arbeitet als Schneiderin beim VEB „Fortschritt" in Berlin-Lichtenberg. 1965 lassen sich die Eltern scheiden, leben aber noch im gleichen Haushalt, als ihr Sohn im März 1966 ums Leben kommt. Vor dem Mauerbau habe ihre Mutter gelegentlich im Westteil der Stadt gearbeitet, erinnert sich die Schwester von Lothar Schleusener. [25] Dort lebten auch Verwandte, die ihnen in den ersten Jahren nach der Grenzschließung zu Weihnachten „Westpakete" schickten. Die Gegend, in der sie wohnten, sei ein Arme-Leute-Viertel gewesen, damals von allen das „Hinterland" genannt, während die Leute im sogenannten „Vorderland", wo viele Parteigenossen lebten, besser gestellt waren. Da beide Eltern berufstätig sind, bleiben sich Lothar und seine Schwester oft selbst überlassen. Am liebsten verbringen sie ihre Zeit im Schrebergarten der Familie, wo sie Tiere halten und im Sommer manchmal übernachten.

Tagelang ist Lothar Schleusener schon verschwunden, als seiner Mutter offiziell mitgeteilt wird, er sei in Espenhain bei Leipzig durch einen Stromschlag verunglückt. Eine Sterbeurkunde des Leipziger Standesamts soll dies beglaubigen. [26] Im Stillen hegen die Eltern von Lothar Schleusener Zweifel an den Angaben der Behörden. Zumal sie keinerlei Erklärung dafür haben, wie ihr Sohn nach Leipzig gekommen sein soll. Weil sie Schwierigkeiten befürchten, wagen sie es aber nicht, ihr Misstrauen offen zum Ausdruck zu bringen. [27] Im Grunde, so glaubt die Schwester von Lothar Schleusener, habe ihre Mutter gewusst, dass man sie belog. Kannte sie doch westliche Radiomeldungen, wonach am Tag, als ihr Sohn verschwand, zwei Kinder an der Mauer erschossen wurden. Aus Kummer und Angst habe sie jedoch zeitlebens nicht über den Tod ihres Sohnes sprechen wollen und auch von ihrer Tochter verlangt, nichts zu erzählen und keine Fragen zu stellen.

Da es sich bei der Sterbeurkunde, die der Mutter seinerzeit ausgehändigt wird, um eine Fälschung handelt, strengt die Berliner Staatsanwaltschaft neben den Ermittlungen gegen die Schützen auch ein Verfahren wegen Falschbeurkundung an. Im August 1997 wird es ohne Ergebnis eingestellt, weil in den Hinterlassenschaften der Grenztruppen, der SED und der Stasi keine Unterlagen zu finden sind, die die mutmaßlichen Täter überführen. [28]

Lothar Schleusener, erschossen an der Berliner Mauer: Im November 1999 errichtetes Denkmal für Lothar Schleusener und Jörg Hartmann in der Kiefholzstraße (Aufnahme 2007)
Spitzelberichte bezeugen jedoch, wie das MfS seinerzeit die Überwachung der vor Ort eingesetzten Grenzer betrieb. „Nur ist der versuchte Grenzdurchbruch der beiden Kinder am Grenzknick nie so geheim geblieben, wie es erwünscht wäre", wird bemängelt. „Es hatte sich schon in unserem Zug (…) herumgesprochen, bevor die beteiligten Posten zum Schweigen verpflichtet wurden. Hinterher gab es allerlei Diskussionen auf unserem Zimmer." Das Postenpaar hätte „getrieft", würde man sich erzählen. Bei aufmerksamer Beobachtung hätte "der Grenzdurchbruch auch ohne Anwendung der Schusswaffe verhindert werden können". [29]

Ihr Bruder Lothar sei besonders tierlieb gewesen, ein freundlicher und fürsorglicher Junge, der unbedingt groß und stark sein wollte und sich gerne vorstellte, wie er die Großmutter später im Auto herumfahren würde, sagt seine Schwester im Rückblick. Kurz vor seinem Verschwinden habe er ihr anvertraut, dass er mit einem Freund nach West-Berlin wolle, um Verwandte zu besuchen und versprochen, ihr von dort etwas Schönes mitzubringen. Damals schenkte sie seinen Worten keinen Glauben. Erst nach dem Mauerfall wird ihr klar, dass er es ernst gemeint hatte. [30]

Die Beisetzung von Lothar Schleusener findet auf dem Friedhof in der Friedensstraße in Berlin-Friedrichshain statt. Nur die Eltern, die Großeltern und seine Schwester nehmen daran teil.

Text: Christine Brecht

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