geboren am 22. Juli 1939
erschossen am 6. Juli 1968
auf dem Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Mitte und Berlin-Tiergarten
Krug, Siegfried
Siegfried Krug, am 22. Juli 1939 in Stettin geboren, gelangt zusammen mit seinen Eltern und seiner Schwester durch Flucht und Vertreibung Ende Februar 1945 nach Erfurt. Dort lässt er sich nach seinem Schulabschluss zum Starkstromelektriker ausbilden. Der Staatssicherheit gilt er als westorientiert, schon als Kind soll er seinen Pionierausweis zerrissen haben. Seine Leidenschaft sei das Radfahren gewesen, er habe Touren bis nach Österreich und Italien unternommen. [43] Kurz vor dem Mauerbau flieht er in die Bundesrepublik. [44] Hier, in der Nähe von Marburg, wohnt seine verheiratete Schwester, die ebenfalls aus der DDR geflohen ist. Wenig später kommt auch seine Mutter nach, so dass die Familie im Westen wieder vereint ist.
Siegfried Krug zieht es in die Großstadt, er geht nach Frankfurt am Main und scheint dort Erfolg zu haben. Wenn er Mutter und Schwester in Marburg besucht, macht er einen immer besseren Eindruck: wohlgenährt, gut gekleidet, manchmal sogar mit dem Mercedes vom Chef. Er arbeite bei einer Verlagsgesellschaft, sagt er, und verschweigt seinen Angehörigen, dass er in Frankfurt als „Drücker", als Verkäufer von Zeitungsabonnements, von Tür zu Tür laufen muss. [45] Eine Freundin hat er auch, er verlobt sich bald und bestellt das Aufgebot. Im Sommer 1968 wollen die Beiden in der Main-Metropole heiraten.
Anfang Juli 1968 verlässt Siegried Krug seine Verlobte mit der Bemerkung, er fahre nach Berlin. Er werde zurückkommen, wisse nur nicht wann. [46] Seiner Schwester sagt er, er wolle nicht heiraten, sondern für längere Zeit verschwinden. [47] Am 5. Juli 1968 fliegt er von Frankfurt nach West-Berlin, übernachtet im Hotel am Bahnhof Zoo und fährt am Abend des 6. Juli mit der S-Bahn zum Bahnhof Friedrichstraße. Hier passiert er gegen 18.30 Uhr den Grenzübergang und steigt eine Stunde später vor dem nur zehn Minuten Fußweg entfernten Brandenburger Tor aus dem Taxi. [48] Von Ost-Berlin aus kann man dem Tor nicht sehr nahe kommen; ca. 300 Meter davor beginnt das Grenzgebiet. Ein Schlagbaum und ein Warnschild halten jeden zurück, der nicht als „Grenzverletzer" festgenommen werden will.
Mit seiner weißen Aktentasche in der Hand, die unter anderem rund 1.100 D-Mark in großen Scheinen enthält [49], geht Siegfried Krug auf dem linken Bürgersteig der „Linden" auf den Schlagbaum zu und gebückt darunter hindurch. Er setzt seinen Weg über den Pariser Platz in Richtung Brandenburger Tor auf dem Bürgersteig fort. Er geht nicht schnell, nicht langsam, als wäre es das Normalste von der Welt. Was ihn, der jederzeit wieder legal hätte in die Weststadt zurück gelangen können, zu dieser heiklen Aktion bewog, wohin seine Taxifahrt vom Bahnhof Friedrichstraße ihn führte, bevor er am Brandenburger Tor anlangte, woher und wofür er das Geld bei sich trug, blieb seinen Angehörigen stets ein Rätsel und ist bis heute ungeklärt. [50]
Als einziger Zivilist auf diesem weiten Vorplatz wird er gleich von einem Grenzposten bemerkt und angerufen: Ob er nicht lesen könne, hier dürfe er nicht weitergehen, hier verlaufe die Staatsgrenze der DDR. „Interessiert mich nicht, ich will zum Brandenburger Tor" [51], soll ihm Krug geantwortet haben. Im Spazierschritt geht er unbeirrt an dem Posten vorbei, wird nochmals gewarnt. Als Krug auch diese Warnung überhört, gibt der Posten eine Warnschusssalve in die Luft ab. Durch die Schüsse alarmiert, kommen zwei weitere Grenzposten gerannt, um Krug am Weitergehen zu hindern. Sie stellen sich ihm mit gezogenen Waffen in den Weg. So findet Siegfried Krug sich durch ein Postendreieck gleichsam eingekreist; einen Posten hat er hinter und zwei vor sich. Doch er läuft weiter. [52]
Der Pariser Platz liegt mitten in der geteilten Stadt und ist von vielen Seiten gut einsehbar. Aus Sicht der DDR-Oberen ist er denkbar ungeeignet für Grenzauseinandersetzungen, die das Bild der friedlichen Hauptstadt in jedem Fall stören würden. Die hier eingesetzten Grenzposten sind entsprechend instruiert.
Einer der ihm entgegen stehenden Posten warnt den sich nähernden Krug, er werde von der Schusswaffe Gebrauch machen, wenn dieser nicht stehen bleibe. „Ihr schießt ja doch nicht" [53], entgegnet Siegfried Krug ganz ruhig und setzt seinen Weg fort, wobei er zwischen den Posten hindurchgeht, die ihm den Weg versperren wollen. Offenbar vertraut er darauf, dass er auf diesem Platz, unter dem Blick der Öffentlichkeit, nicht gewaltsam an seinem Weg von Ost nach West gehindert, geschweige denn erschossen werden kann.
Der hinter ihm befindliche Posten gibt nun Warnschüsse in die Luft ab. Krug bleibt daraufhin stehen und dreht sich um. Er ist erst ca. 50 Meter vorangekommen und noch gut 250 Meter vom Brandenburger Tor entfernt. Nach kurzem Zögern macht Siegfried Krug kehrt, läuft den Weg zurück, den er gekommen ist – direkt auf den Posten zu, der zuletzt in die Luft geschossen hat. Der ruft ihm zu, er solle stehen bleiben und sich festnehmen lassen oder freiwillig zum Gebäude des Führungspunktes gehen, der sich im ehemaligen Hotel Adlon befindet. Krug reagiert nicht, läuft weiter auf den Posten zu. Er ist unbewaffnet, die Grenzer sind nicht nur zahlenmäßig überlegen. Dennoch: Mit einer solchen Situation ist der Posten noch nicht konfrontiert und vermutlich auch nicht darauf vorbereitet worden. Er fasst den Handgriff seiner Kalaschnikow und richtet sie – einhändig – auf Krug. Als der junge Mann mit der weißen Aktentasche sich ihm auf wenige Meter genähert hat, zielt der Posten auf Krug und drückt ab: Ein Feuerstoß, alle drei abgegebenen Geschosse treffen Siegfried Krug, durchschlagen Bauch, Brust und Oberarm. [54] Er wird gleich aus dem Blickfeld geschafft und ins Volkspolizei-Krankenhaus abtransportiert. Eine Stunde später ist er tot.
Der Schütze wird nun, wie üblich, versetzt und ausgezeichnet [55], doch es meldet sich unter den mitwissenden Soldaten auch Protest. Ein Oberstleutnant der Grenztruppen kommt in seinem Bericht zu dem Schluss, dass der Grenzposten angesichts der Übermacht der Grenzer hätte „anders handeln müssen". [56]
Erst bei seiner polizeilichen Vernehmung im Jahr 1992 erfährt der Schütze, dass er Krug getötet hat. [57] Das Berliner Landgericht verurteilt ihn wegen Totschlags zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren. Er habe „einen offensichtlich nicht mehr gefährlichen Eindringling, der schutz- und wehrlos war, einfach erschossen", heißt es im Urteil. [58] Ein Verfahren gegen Angehörige der Staatssicherheit und der DDR-Militärstaatsanwaltschaft wegen Rechtsbeugung und Begünstigung wird Mitte 1998 aufgrund mangelnden Tatverdachts von der Berliner Staatsanwaltschaft eingestellt. [59]
Im Juli 1968 protestieren der West-Berliner Senat und die Bundesregierung: Das West-Berliner "Studio am Stacheldraht" lässt vor dem Brandenburger Tor ein Plakat aufstellen mit der an die Grenzer gerichteten Mahnung: "Die Dich heute loben, werden Dich morgen verleugnen!" [60]
Zwar ist der Vorfall auf beiden Seiten des Brandenburger Tores beobachtet worden. Niemand jedoch weiß, dass es sich bei dem Getöteten nicht um einen DDR-Flüchtling, sondern um einen Bundesbürger handelt – außer der Staatssicherheit. Eine ideale Situation, den Toten einäschern und verschwinden zu lassen. Die Stasi veranlasst, dass eventuelle Nachfragen zu dem Erschossenen von DDR-Behörden grundsätzlich nicht beantwortet werden. [61] So kommt es, dass Siegfried Krug in Treptow in der Grabstelle P 1 R – 229 anonym bestattet wird und weder seine Verlobte in Frankfurt am Main noch seine Mutter und Schwester in Marburg von den DDR-Behörden jemals Informationen über sein Schicksal erhalten. [62]
Siegfried Krug gilt als verschollen; jahrelang hoffen die Angehörigen auf seine Rückkehr. [63] Erst 1991 erfahren sie von seinem Tod.
Text: Martin Ahrends/Udo Baron
Siegfried Krug zieht es in die Großstadt, er geht nach Frankfurt am Main und scheint dort Erfolg zu haben. Wenn er Mutter und Schwester in Marburg besucht, macht er einen immer besseren Eindruck: wohlgenährt, gut gekleidet, manchmal sogar mit dem Mercedes vom Chef. Er arbeite bei einer Verlagsgesellschaft, sagt er, und verschweigt seinen Angehörigen, dass er in Frankfurt als „Drücker", als Verkäufer von Zeitungsabonnements, von Tür zu Tür laufen muss. [45] Eine Freundin hat er auch, er verlobt sich bald und bestellt das Aufgebot. Im Sommer 1968 wollen die Beiden in der Main-Metropole heiraten.
Anfang Juli 1968 verlässt Siegried Krug seine Verlobte mit der Bemerkung, er fahre nach Berlin. Er werde zurückkommen, wisse nur nicht wann. [46] Seiner Schwester sagt er, er wolle nicht heiraten, sondern für längere Zeit verschwinden. [47] Am 5. Juli 1968 fliegt er von Frankfurt nach West-Berlin, übernachtet im Hotel am Bahnhof Zoo und fährt am Abend des 6. Juli mit der S-Bahn zum Bahnhof Friedrichstraße. Hier passiert er gegen 18.30 Uhr den Grenzübergang und steigt eine Stunde später vor dem nur zehn Minuten Fußweg entfernten Brandenburger Tor aus dem Taxi. [48] Von Ost-Berlin aus kann man dem Tor nicht sehr nahe kommen; ca. 300 Meter davor beginnt das Grenzgebiet. Ein Schlagbaum und ein Warnschild halten jeden zurück, der nicht als „Grenzverletzer" festgenommen werden will.
Mit seiner weißen Aktentasche in der Hand, die unter anderem rund 1.100 D-Mark in großen Scheinen enthält [49], geht Siegfried Krug auf dem linken Bürgersteig der „Linden" auf den Schlagbaum zu und gebückt darunter hindurch. Er setzt seinen Weg über den Pariser Platz in Richtung Brandenburger Tor auf dem Bürgersteig fort. Er geht nicht schnell, nicht langsam, als wäre es das Normalste von der Welt. Was ihn, der jederzeit wieder legal hätte in die Weststadt zurück gelangen können, zu dieser heiklen Aktion bewog, wohin seine Taxifahrt vom Bahnhof Friedrichstraße ihn führte, bevor er am Brandenburger Tor anlangte, woher und wofür er das Geld bei sich trug, blieb seinen Angehörigen stets ein Rätsel und ist bis heute ungeklärt. [50]
Als einziger Zivilist auf diesem weiten Vorplatz wird er gleich von einem Grenzposten bemerkt und angerufen: Ob er nicht lesen könne, hier dürfe er nicht weitergehen, hier verlaufe die Staatsgrenze der DDR. „Interessiert mich nicht, ich will zum Brandenburger Tor" [51], soll ihm Krug geantwortet haben. Im Spazierschritt geht er unbeirrt an dem Posten vorbei, wird nochmals gewarnt. Als Krug auch diese Warnung überhört, gibt der Posten eine Warnschusssalve in die Luft ab. Durch die Schüsse alarmiert, kommen zwei weitere Grenzposten gerannt, um Krug am Weitergehen zu hindern. Sie stellen sich ihm mit gezogenen Waffen in den Weg. So findet Siegfried Krug sich durch ein Postendreieck gleichsam eingekreist; einen Posten hat er hinter und zwei vor sich. Doch er läuft weiter. [52]
Der Pariser Platz liegt mitten in der geteilten Stadt und ist von vielen Seiten gut einsehbar. Aus Sicht der DDR-Oberen ist er denkbar ungeeignet für Grenzauseinandersetzungen, die das Bild der friedlichen Hauptstadt in jedem Fall stören würden. Die hier eingesetzten Grenzposten sind entsprechend instruiert.
Einer der ihm entgegen stehenden Posten warnt den sich nähernden Krug, er werde von der Schusswaffe Gebrauch machen, wenn dieser nicht stehen bleibe. „Ihr schießt ja doch nicht" [53], entgegnet Siegfried Krug ganz ruhig und setzt seinen Weg fort, wobei er zwischen den Posten hindurchgeht, die ihm den Weg versperren wollen. Offenbar vertraut er darauf, dass er auf diesem Platz, unter dem Blick der Öffentlichkeit, nicht gewaltsam an seinem Weg von Ost nach West gehindert, geschweige denn erschossen werden kann.
Der hinter ihm befindliche Posten gibt nun Warnschüsse in die Luft ab. Krug bleibt daraufhin stehen und dreht sich um. Er ist erst ca. 50 Meter vorangekommen und noch gut 250 Meter vom Brandenburger Tor entfernt. Nach kurzem Zögern macht Siegfried Krug kehrt, läuft den Weg zurück, den er gekommen ist – direkt auf den Posten zu, der zuletzt in die Luft geschossen hat. Der ruft ihm zu, er solle stehen bleiben und sich festnehmen lassen oder freiwillig zum Gebäude des Führungspunktes gehen, der sich im ehemaligen Hotel Adlon befindet. Krug reagiert nicht, läuft weiter auf den Posten zu. Er ist unbewaffnet, die Grenzer sind nicht nur zahlenmäßig überlegen. Dennoch: Mit einer solchen Situation ist der Posten noch nicht konfrontiert und vermutlich auch nicht darauf vorbereitet worden. Er fasst den Handgriff seiner Kalaschnikow und richtet sie – einhändig – auf Krug. Als der junge Mann mit der weißen Aktentasche sich ihm auf wenige Meter genähert hat, zielt der Posten auf Krug und drückt ab: Ein Feuerstoß, alle drei abgegebenen Geschosse treffen Siegfried Krug, durchschlagen Bauch, Brust und Oberarm. [54] Er wird gleich aus dem Blickfeld geschafft und ins Volkspolizei-Krankenhaus abtransportiert. Eine Stunde später ist er tot.
Der Schütze wird nun, wie üblich, versetzt und ausgezeichnet [55], doch es meldet sich unter den mitwissenden Soldaten auch Protest. Ein Oberstleutnant der Grenztruppen kommt in seinem Bericht zu dem Schluss, dass der Grenzposten angesichts der Übermacht der Grenzer hätte „anders handeln müssen". [56]
Erst bei seiner polizeilichen Vernehmung im Jahr 1992 erfährt der Schütze, dass er Krug getötet hat. [57] Das Berliner Landgericht verurteilt ihn wegen Totschlags zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren. Er habe „einen offensichtlich nicht mehr gefährlichen Eindringling, der schutz- und wehrlos war, einfach erschossen", heißt es im Urteil. [58] Ein Verfahren gegen Angehörige der Staatssicherheit und der DDR-Militärstaatsanwaltschaft wegen Rechtsbeugung und Begünstigung wird Mitte 1998 aufgrund mangelnden Tatverdachts von der Berliner Staatsanwaltschaft eingestellt. [59]
Im Juli 1968 protestieren der West-Berliner Senat und die Bundesregierung: Das West-Berliner "Studio am Stacheldraht" lässt vor dem Brandenburger Tor ein Plakat aufstellen mit der an die Grenzer gerichteten Mahnung: "Die Dich heute loben, werden Dich morgen verleugnen!" [60]
Zwar ist der Vorfall auf beiden Seiten des Brandenburger Tores beobachtet worden. Niemand jedoch weiß, dass es sich bei dem Getöteten nicht um einen DDR-Flüchtling, sondern um einen Bundesbürger handelt – außer der Staatssicherheit. Eine ideale Situation, den Toten einäschern und verschwinden zu lassen. Die Stasi veranlasst, dass eventuelle Nachfragen zu dem Erschossenen von DDR-Behörden grundsätzlich nicht beantwortet werden. [61] So kommt es, dass Siegfried Krug in Treptow in der Grabstelle P 1 R – 229 anonym bestattet wird und weder seine Verlobte in Frankfurt am Main noch seine Mutter und Schwester in Marburg von den DDR-Behörden jemals Informationen über sein Schicksal erhalten. [62]
Siegfried Krug gilt als verschollen; jahrelang hoffen die Angehörigen auf seine Rückkehr. [63] Erst 1991 erfahren sie von seinem Tod.
Text: Martin Ahrends/Udo Baron